Das Tal der Wiesel
Worten –, »geistig gesehen ist er noch voll da, der Patient?«
»Wilderer? Es ist leichter, ein Wiesel zu überlisten, als Wilderer zu etwas zu bringen, was er nicht will.«
»Ich hab’ mich gewundert.« Die Bienen summten ohne Unterlaß; der Arzt ging auf seinen Wagen zu. Er stellte seine Tasche hinein und blickte noch einmal zu dem kleinen Fenster, hinter dem sein Patient lag. »Ich hab’ mich nur etwas gewundert«, murmelte er achselzuckend. »Man trifft alle möglichen Leute. Er erzählte irgend etwas von einem Baum. Scheinbar glaubt er, daß sein Unglück …«
»Die alte Silberweide am kleinen Waldsee – Wilderers Lebensbaum. Das brauchen Sie nicht so ernst zu nehmen. Er ist ein kauziger Heide, voller Phantasien.«
»Ich verstehe.«
Zögernd brachte sie die Frage heraus: »Wie steht es um ihn?« Sie wußte es bereits; sie wußte es, seitdem sich Wilderer freiwillig ins Bett gelegt hatte. Er war nun kraftlos geworden. Als sie an seine Zähigkeit dachte, an den widerstandsfähigen, wetterharten Wilderer aus ihrer Schulzeit, erahnte sie, wie schnell die Lebenskraft dahinschwand. Mit ihrer Mutter war es genauso gewesen. Niemals war sie von einer Krankheit geplagt worden – bis zu dem Tag, an dem sie über Beschwerden klagte. Und in der folgenden Woche war sie dann gestorben. Doch Wilderer hatte irgendwie den Eindruck erweckt, anders zu sein, unverwüstlich. Er hatte sich niemals verändert; und es war ihr so vorgekommen, als ob die Zeit und das Alter ihm nichts anhaben konnten. Sie schluckte und grub die Fingernägel in ihren Arm, als ob sie sich selbst zurechtweisen wollte.
Der ältere Mann betrachtete sie. In ihren abgetragenen Jeans sah sie aus wie ein Mädchen vom Lande – aber wen sollte man in diesem abgelegenen Tal auch sonst treffen? Er sagte: »Das Heu riecht gut, doch es steigt in die Nase. Und viel Blütenstaub fliegt zur Zeit herum. Es steht wirklich nicht sehr gut um ihn«, gab er im gleichen Atemzug zu. »Ich werde mein Bestes versuchen, um etwas in die Wege zu leiten. Bis dahin muß sich jemand um ihn kümmern. Er darf nicht aufstehen, und er muß ruhig liegenbleiben …«
»Verschreiben Sie ihm etwas?«
»Können Sie es abholen?«
»Ja«, sagte der junge Mann schnell. »Ich werde sie hinfahren. Kein Problem. Ich werde sie in die Stadt bringen und wieder zurückfahren.« Als der Humber, durch die tiefen Schlaglöcher hindurch, davonfuhr, legte er seine Hand auf ihre Schulter. »Er wird es schon schaffen«, sagte er zu ihr. »Wir werden Wilderer schon wieder auf die Beine kriegen. Er wird sich wieder erholen.«
»Dieser verfluchte Lump!« rief das Mädchen aus. »Er und sein Baum! Die kahlen Äste haben mich erschreckt.«
»Man sagt, daß in der letzten Nacht, als der Himmel tiefschwarz war und eine sonderbare Stimmung die Marsch ergriffen hatte, sogar die Fledermäuse das kleine, rechteckige Gebäude mieden, das in der Nähe des Burghügels liegt, dort, wo Kanal und Fluß zusammentreffen. Letzte Nacht, so sagt man, wurde das Böse an diesem Ort von Unruhe gepackt, war Gru rastlos vor Hunger und Appetit. Dann, am Ende der Pumpe, wo Schatten wie Leichen vorbeitrieben, rührte es sich in den dunklen Verliesen des Schlupfwinkels, und kalte Augenpaare starrten den unruhigen Mond an.
Eine Stunde lang, so sagt man, schnappte und scharrte Grus Bande in hungriger Bereitschaft; die Nebelschwaden der Nacht waren vom Gestank der Nerze erfüllt. Die Marsch erschauerte. In erdrückenden Wogen dahinziehende Wolken verbreiteten Furcht über die Ebene. Die Tiere begannen zu zittern. Dann sprach die Nerzin, und ihre Diener erhielten die Befehle. Sie gelangten von Liverskin, ihrem Gatten, zu den Zwillingen mit den blutdürstigen Augen und weiter zu den anderen. Dann glitten die Räuber schnell aus ihrem Schlupfwinkel und liefen los.
Man sagt, daß der heutige Tag voller Gewalt und Leid sein wird.« Bunda erzählte es, und Scrat berichtete voller Schrecken davon, als die Sonne aufging.
Doch seit der Geburt von Kias Jungen war Kines Interesse an anderen Dingen geschwunden. Kine war euphorisch, und der Sommer überzog die Marsch mit einer trügerischen Harmlosigkeit. Am Fluß und am Kanal, wo die kräftigen Nachkömmlinge der Schwäne aufgezogen wurden, hatte sich ungestört ein dichter Pflanzenwuchs entwickelt. Die Schilfgräser mit ihren malvenfarbigen Rispen waren aufgeschossen. Der Flußampfer bildete zusammen mit Binsen und Schwertlilien üppige Gärten, in denen Vögel sangen.
Im hellen
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