Das Tal der Wiesel
Heufeld aus konnte man ihn gerade noch verstehen. Von seinen geschwollenen Erzählungen war nicht viel übriggeblieben.
»Letzte Nacht, als der Himmel tiefschwarz war, und am Ende der Pumpe Schatten wie Leichen vorbeitrieben, rührte es sich in den dunklen Verliesen …«
Kine hörte nicht zu. Mit weitgeöffneten Nasenlöchern blieb er einen Moment mit gekrümmtem Rücken auf den kurzgeschnittenen Grasstoppeln stehen und untersuchte die Luft mit seiner feinen Nase. Der vorherrschende Geruch ging vom Heu aus, doch er konnte auch leichte Spuren vieler Wildkräuter und Tiere wahrnehmen. Die Gerüche von Beutetieren waren kalt. Er beachtete sie nicht weiter. Aber eine Schattierung verärgerte ihn. Er sprang vorwärts, hielt wieder an und schnupperte erneut. Mit gesträubten Nackenhaaren spurtete er weiter und erreichte den überwucherten Graben am Feldrand. Das Korn stand schon hoch. Disteln ragten wie Schiffsmasten über ihm auf. Riesige Gräser bogen sich unter dem Gewicht ihrer Ähren. Kine reckte seinen Hals. Der Geruch war ebenso eindeutig wie ekelerregend.
Er folgte dem Nerzgeruch bis zum Bachdurchlaß, lief an dem Rohr entlang bis zur verkrüppelten Esche, wo ihre Nachkömmlinge gezeugt worden waren, sprang über den Graben neben der Wiese und drang in die Tiefe des Waldes ein. Sein Kopf glich einem Strudel, alle Gedanken darin wurden von dem abscheulichen Gestank überflutet. Seine Sinne wirbelten durcheinander, und das Zentrum des Strudels war von Angst erfüllt: eine Angst, wie sie Kine noch niemals gespürt hatte.
Die Luft war verpestet, die Bogengänge, die von den Eichen gebildet wurden, waren grün und still. Breitblättrige Gräser, die so elegant wie Schwertlilien wirkten, drängten sich um die dicken Stämme. Kine beachtete sie nicht. Er nahm auch keine Notiz von den stummen Brennesselbüscheln oder von den vollausgebildeten, düsteren Klettenpflanzen. Selbst mitten im Sommer lagen die vermodernden Blätter vom letzten Herbst noch zwischen den Kräutern, und die abgebrochenen Zweige, auf die er hinaufsprang, waren faulig.
Alles was er wahrnahm, war der tödliche Geruch und ein entferntes, aufgebrachtes »Zerr«, das wie eine sich schnell bewegende Ratsche klang, das lauter wurde, als er rannte, und das die Stille immer wieder durchbrach. Daß es aus einer so kleinen Kehle wie die des Zaunkönigs kam, mag einen Fremden vielleicht überrascht haben, doch Kine kannte den empörten Ausruf, und er wurde durch ihn in Schrecken versetzt. »Bereite dich vor«, rief der Zaunkönig aus. »Sei vorbereitet, Kine!«
Die Federn des Bläßhuhns lagen am Ufer des Sees in einem kleinen Haufen zusammen, ein schwarzgraues Häufchen, daneben war der Boden mit blutigen Fleischklumpen übersät. Das Häufchen stank nach Nerz, ebenso der Weg von den Überresten des Bläßhuhns zum Wasser. Kine zitterte vor Erregung. Er wagte kaum weiterzugehen, setzte sich langsam in Bewegung. Ein Rotauge lag oben auf dem kleinen Steilufer, sein Kopf war abgerissen. Kine wußte, was folgen würde, und war dadurch, bevor es eintraf, gefühllos geworden, beherrscht von einer eisigen Voraussicht.
Kias übel zugerichteter Körper lag nicht weit entfernt, ihr Zähnefletschen war erstarrt. Eine Zeitlang konnte er sie nur erstaunt anstarren. Er bewegte sich langsam näher heran und schnupperte. Es war eine andere Kia. Der Geruch gehörte zu Kia. Der Körper gehörte zu Kia. Aber es war eine kalte Kia, zerrissen und besudelt von entsetzlichen Kiefern.
Er stupste den Kadaver mit seiner Nase an, stand verwirrt neben der unförmigen Gestalt. Er war wie betäubt. Langsam umkreiste er sie, füllte seine Leere mit Unglauben. Es war unmöglich. Der Körper war entstellt, die Eingeweide lagen bloß, wimmelten von Ameisen, doch Kine konnte nicht glauben, daß sie sich nie mehr bewegen würde, daß das starre Auge nichts sah. Und auch nicht, daß das Nest leer, auf widerliche Weise zerstört worden war.
»Die Zeit war zu knapp«, rief der Zaunkönig. »Sie wollte sie in Sicherheit bringen, doch die Zeit war zu knapp. Es gab keine Warnung, sie tauchten plötzlich aus dem Wasser auf und fielen über sie her. Sie leistete Widerstand. Sie wirkte zwergenhaft gegenüber den Riesen, doch sie leistete Widerstand. Sie verteidigte ihre Jungen bis zum letzten Atemzug.« Der Vogel hüpfte aufgeregt von Ast zu Ast. »Sie hielt sich tapfer, Kine, ein verzweifelter Feuersturm, eine fauchende Furie. Blutüberströmt setzte sie sich zur Wehr und drängte sie in ihrem
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