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Das Tao der Physik

Das Tao der Physik

Titel: Das Tao der Physik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritjof Capra
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sind. In der modernen Physik ist dies die atomare und
subatomare Welt; in der Mystik sind es die außergewöhnlichen
Bewußtseinszustände, in denen die Welt der Sinne überschritten wird. Die Mystiker sprechen oft von der Erfahrung höherer
Dimensionen, in denen Eindrücke von verschiedenen Bewußtseinszentren zu einem harmonischen Ganzen integriert sind.
Ähnlich verhält es sich in der modernen Physik, wo ein vierdimensionales
Raum-Zeit-Formelsystem entwickelt wurde,
das Begriffe und Beobachtungen vereint, die in der gewöhnlichen dreidimensionalen Welt verschiedenen Kategorien angehören. Auf beiden Gebieten überschreiten die mehrdimensionalen Erfahrungen die Welt der Sinne, und es ist daher fast unmöglich, sie in gewöhnlicher Sprache auszudrücken.
    Wenn die Parallelen zwischen westlicher Wissenschaft und
östlicher Mystik einmal anerkannt sind, wird eine Reihe von
Fragen über ihre Bedeutung auftauchen. Entdeckt die moderne Physik mit ihrer komplizierten Maschinerie nur alte
Weisheiten neu, die die östlichen Weisen seit Jahrtausenden
kennen? Sollten die Physiker ihre wissenschaftliche Methode
aufgeben und zu meditieren anfangen? Können Wissenschaft
und Mystik sich gegenseitig befruchten, vielleicht sogar zu einer
Synthese führen?
    Ich meine, daß die Antwort auf alle diese Fragen nein lautet.
Ich sehe Wissenschaft und Mystik als zwei sich ergänzende Manifestationen des menschlichen Geistes, seiner rationalen und
seiner intuitiven Fähigkeiten. Die moderne Physik erfährt die
Welt durch eine extreme Spezialisierung des rationalen Verstandes, die Mystik durch extreme Schärfung des intuitiven
Sinnes. Die beiden Ansätze sind ganz verschieden und umfassen weit mehr als eine bestimmte Anschauung von der physikalischen Welt. Sie sind jedoch »komplementär«, wie wir in der
Physik sagen. Keine von ihnen ist in der anderen enthalten,
noch kann eine auf die andere zurückgeführt werden, aber
beide sind notwendig und ergänzen sich für ein vollständiges
Begreifen der Welt. Um ein altes chinesisches Sprichwort abzuwandeln: Mystiker verstehen die Wurzeln des Tao, aber
nicht seine Zweige; Wissenschaftler verstehen seine Zweige,
aber nicht seine Wurzeln. Die Wissenschaft braucht die Mystik
nicht und die Mystik nicht die Wissenschaft, aber der Mensch
braucht beides. Mystische Erfahrung ist nötig, um das Wesen
der Dinge zu begreifen, und Wissenschaft ist für das moderne
Leben unerläßlich. Wir brauchen daher keine Synthese, sondern ein dynamisches Zusammenspiel der mystischen Intuition
und der wissenschaftlichen Analyse.
    Dies wurde bisher in unserer Gesellschaft nicht erreicht. Zur
Zeit ist unsere Haltung zu »Yang«, um wieder einen chinesischen Ausdruck zu benutzen, zu rational, männlich und aggressiv. Die Wissenschaftler selbst sind typische Beispiele. Obwohl
ihre Theorien zu einer Weltanschauung führen, die derjenigen
der Mystiker ähnlich ist, fällt auf, wie wenig dies die Einstellung
der meisten Wissenschaftler beeinflußt hat. In der Mystik kann
Wissen nicht von einer bestimmten Lebensweise getrennt werden, die zu ihrer lebendigen Manifestation wird. Mystisches
Wissen zu erwerben heißt, sich einer Wandlung zu unterziehen.
Man könnte sogar sagen, daß dieses Wissen die Wandlung ist. Dagegen kann das wissenschaftliche Wissen oft im Abstrakten
und Theoretischen bleiben. So nehmen die meisten heutigen
Physiker die philosophischen, kulturellen und spirituellen
Auswirkungen ihrer Theorien anscheinend nicht zur Kenntnis.
Viele von ihnen unterstützen aktiv eine Gesellschaft, die immer
noch auf der mechanistischen, fragmentarischen Weltanschauung basiert, und sehen nicht ein, daß die Wissenschaft darüber
hinausweist, zu einer Einheit des Universums, die nicht nur unsere natürliche Umgebung, sondern auch unsere Mitmenschen
umfaßt. Ich glaube, daß die Weltanschauung, die aus der modernen Physik hervorgeht, mit unserer gegenwärtigen Gesellschaft unvereinbar ist, weil sie den harmonischen Zusammenhängen, die wir in der Natur beobachten, nicht Rechnung trägt.
Um einen solchen Zustand des dynamischen Gleichgewichts zu
erreichen, bedarf es einer völlig anderen sozialen und ökonomischen Struktur: einer kulturellen Revolution im wahren
Sinne des Wortes. Das Überleben unserer ganzen Zivilisation
kann davon abhängen, ob wir zu einer solchen Wandlung fähig
sind. Es geht letztlich darum, daß wir einige der »Yin«-Anschauungen der östlichen Mystik übernehmen, die Natur ganzheitlich erfahren und mit ihr

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