Das Tao der Physik
Schlüsse, zu denen sie kamen, unterscheiden
sich oft radikal von den Vorstellungen des Westens. Wenn die
Physiker wirklich die Natur des menschlichen Bewußtseins in
das Reich ihrer Forschung einbeziehen wollen, kann ihnen das
Studium östlicher Ideen sehr
wohl neue und anregende
Gesichtspunkte liefern.
Die Erweiterung des Hadronen-Bootstrap durch das »Bootstrapping« der Raum-Zeit und vielleicht sogar des menschlichen Bewußtseins würde vermutlich über den konventionellen Rahmen der Wissenschaft hinausgehen:
Ein solcher künftiger Schritt würde wesentlich tiefergreifende Konsequenzen haben als alles, was im Zusammenhang mit dem Hadronen-Bootstrap erreicht werden kann. Wir wären gezwungen, uns
mit dem schwer faßbaren Begriff der Beobachtung und sogar des
Bewußtseins auseinanderzusetzen. Unser gegenwärtiges Ringen
um den Hadronen-Bootstrap wäre dann vielleicht nur ein Vorgeschmack auf eine völlig neue Form menschlichen intellektuellen
Bemühens, das nicht nur außerhalb der Physik liegt, sondern nicht
einmal als »wissenschaftlich« bezeichnet werden kann. 28
Wohin führt uns dann die Bootstrap-Hypothese? Das weiß
natürlich niemand, aber es ist faszinierend, über ihr endgültiges
Schicksal nachzudenken. Man kann sich ein Netzwerk künftiger Theorien vorstellen, die einen ständig wachsenden Bereich
von Naturerscheinungen mit ständig zunehmender Genauigkeit erfassen; ein Netzwerk, das immer weniger unerklärte
Züge enthält, das seine Struktur immer mehr von der wechselseitigen Stimmigkeit seiner Teile ableitet. Eines Tages wird
dann ein Punkt erreicht sein, wo die Elemente des wissenschaftlichen Rahmens die einzigen unerklärten Züge dieses
Netzwerks von Theorien sein werden. Jenseits dieses Punktes
wird die Theorie nicht mehr in der Lage sein, ihre Ergebnisse in
Worten oder in rationalen Begriffen auszudrücken, und somit
wird sie die Wissenschaft überschreiten. Anstelle einer Boot strap-Theorie der Natur wird sie zu einer Bootstrap-Vision der
Natur, jenseits von Gedanken und Sprache und aus der Wissenschaft heraus in die Welt des acintya, des Undenkbaren, führen.
Das in solcher Vision enthaltene Wissen wird vollständig sein,
aber nicht mit Worten vermittelt werden können. Es wird das
Wissen sein, das Lao-tzu vor mehr als zweitausend Jahren
meinte, als er sagte:
Wer weiß, redet nicht,29 Wer redet, weiß nicht.
Epilog
Die östlichen Religionsphilosophien befassen sich mit zeitlosem mystischen Wissen, das die Logik übersteigt und nicht angemessen in Worte zu fassen ist. Die Beziehung dieses Wissens
zur modernen Physik ist nur einer ihrer vielen Aspekte und
kann wie alle anderen nicht schlüssig bewiesen, sondern nur auf
direkte, intuitive Art erfahren werden. Ich hoffe daher, daß es
mir einigermaßen gelungen ist, dem Leser weniger eine strenge
Beweisführung, als hin und wieder die Gelegenheit zu einer Erfahrung gegeben zu haben, die für mich zu einer Quelle dauernder Freude und Inspiration wurde; der Erfahrung, daß die
Grundtheorien und Modelle der modernen Physik zu einer
Weltanschauung führen, die innerlich stimmig ist und mit den
Anschauungen der östlichen Mystik vollkommen harmoniert.
Für diejenigen, die diese Harmonie erfahren haben, gibt es keinen Zweifel an der Bedeutung der Parallelen zwischen der
Weltanschauung der Physiker und der Mystiker. Die interessante Frage ist dann nicht, ob diese Parallelen existieren, sondern warum, und weiter, was daraus folgt.
In seinen Versuchen, das Mysterium des Lebens zu ergründen, schlug der Mensch viele verschiedene Wege ein, u. a. den
Weg der Wissenschaft und den der Mystik, aber noch viele andere mehr: den Weg des Dichters, des Kindes, des Clowns, des
Schamanen, um nur einige zu nennen. Diese Wege führten zu
verschiedenen verbalen und nicht-verbalen
Beschreibungen
der Welt, die verschiedene Aspekte betonen. Alle sind in dem
Rahmen, in dem sie entstanden, nützlich und anwendbar. Sie
sind jedoch alle nur Beschreibungen oder Darstellungen der
Wirklichkeit und daher begrenzt. Keine kann ein vollständiges
Weltbild geben.
Die mechanistische Weltanschauung der klassischen Physik
ist brauchbar für die Beschreibung der Phänomene, denen wir
in unserem täglichen Leben begegnen, und damit für den Umgang mit unserer Umgebung, und sie erwies sich auch als Basis
für die Technik als äußerst tauglich. Sie ist jedoch ungeeignet
für die Beschreibung der physikalischen Phänomene im submikroskopischen Bereich. Die Ansicht der Mystiker ist dem
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