Das Tao der Physik
mechanistischen Begreifen der Welt entgegengesetzt; sie ist »organisch«, da sie alle Phänomene im Universum als integrale
Bestandteile eines unteilbaren harmonischen Ganzen betrachtet. Diese Weltanschauung entsteht in den mystischen Traditionen aus dem meditativen Bewußtseinszustand. In ihrer Beschreibung der Welt gebrauchen die Mystiker Begriffe, die von
diesen außergewöhnlichen Erfahrungen abgeleitet sind und
sich im allgemeinen für eine wissenschaftliche Beschreibung
makroskopischer Phänomene nicht eignen. Die organische
Weltanschauung bringt für die Konstruktion von Maschinen
keine Vorteile, auch nicht für die Behandlung der technischen
Probleme in einer übervölkerten Welt.
Im täglichen Leben sind also beide, die mechanistische und
die organische Ansicht vom Universum, gültig und nützlich; die
eine für Wissenschaft und Technik, die andere für ein ausgeglichenes und erfülltes spirituelles Leben. Jenseits der Dimensionen unserer täglichen Umgebung verlieren die mechanistischen
Begriffe jedoch ihre Gültigkeit und müssen durch organische
Begriffe ersetzt werden, die denen der Mystik sehr ähnlich sind.
Dies ist die wesentliche Erfahrung der modernen Physik, die
das Thema unserer Diskussion war. Die Physik im zwanzigsten
Jahrhundert zeigte, daß die Begriffe der organischen Weltanschauung, obwohl von geringem Wert für Wissenschaft und
Technik im menschlichen Bereich, auf der atomaren und subatomaren Ebene äußerst nützlich wurden. Die organische Anschauung scheint daher grundlegender zu sein als die mechanistische. Die klassische Physik, die auf letzterer basiert, läßt sich
von der Quantentheorie ableiten, was umgekehrt nicht möglich
ist. Diese Anzeichen lassen erwarten, daß eine Ähnlichkeit besteht zwischen der Weltanschauung der modernen Physik und
der östlichen Mystik. Beide treten auf, wenn der Mensch dem
Wesen der Dinge auf den Grund geht — wenn er in die tieferen
Schichten der Materie eindringt wie in der Physik oder in die
tieferen Schichten des Bewußtseins wie in der Mystik, wenn er
also hinter den oberflächlichen, mechanischen Erscheinungen
des täglichen Lebens eine andere Wirklichkeit entdeckt.
Die Parallelen werden noch plausibler, wenn wir uns die anderen Ähnlichkeiten ins Gedächtnis zurückrufen, die trotz der
unterschiedlichen Ansätze existieren. Erstens sind ihre Methoden rein empirisch: Physiker leiten ihr Wissen von Versuchen
ab, Mystiker von meditativen Erkenntnissen. Beides sind Beobachtungen, und in beiden Bereichen werden diese Beobachtungen als einzige Quelle des Wissens anerkannt. Der Gegenstand der Beobachtung ist freilich in beiden Fällen sehr verschieden. Die Mystiker schauen nach innen und erforschen ihr
Bewußtsein auf verschiedenen Ebenen, die den Körper als physische Manifestation des Geistes einschließen. Die Körpererfahrung wird in vielen östlichen Traditionen betont und oft
als Schlüssel zur mystischen Welterfahrung betrachtet. Wenn
wir gesund sind, fühlen wir die einzelnen Teile unseres Körpers
nicht, sondern sind uns seiner als integriertes Ganzes bewußt,
und dieses Bewußtsein erzeugt ein Gefühl des Wohlbehagens
und des Glücks. Auf ähnliche Weise ist sich der Mystiker der
Ganzheit des gesamten Kosmos bewußt, der als Ausdehnung
des Körpers erfahren wird: Mit den Worten Lama Govindas:
Der erleuchtete Mensch aber, dessen Bewußtsein das Universum
umfaßt, hat das Universum zum »Körper«, während sein physischer
Körper zur Manifestation des universellen Geistes wird, seine
Schauung zum Ausdruck höchster Wirklichkeit und seine Rede zum
mantrischen Machtwort und heiliger Verkündung. 1
Im Gegensatz zum Mystiker beginnt der Physiker seine Erforschung des Wesens der Dinge mit dem Studium der materiellen
Welt. Beim Eindringen in die tieferen Schichten der Materie
wurde er sich der Einheit aller Dinge und Vorgänge bewußt.
Darüber hinaus hat er auch gelernt, daß er selbst und sein Bewußtsein ein integraler Teil dieser Einheit sind. So kommen der
Mystiker und der Physiker zu derselben Schlußfolgerung, der
eine ausgehend vom Reich des Inneren, der andere von der äußeren Welt. Die Harmonie zwischen ihren Ansichten bestätigt
die alte indische Weisheit, daß Brahman, die letzte äußere Realität, mit Atman, der inneren Realität, identisch ist.
Eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Weg des Physikers
und dem des Mystikers liegt darin, daß ihre Beobachtungen auf
Ebenen stattfinden, die den gewöhnlichen Sinnen nicht zugänglich
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