Das Tao der Physik
wenn wir uns nicht klarmachen, daß sie nur die Projektionen vierdimensionaler Phänomene sind, so wie Schatten
die Projektionen dreidimensionaler Objekte sind. Wenn wir
die vierdimensionale Raum-Zeit-Realität sehen könnten, gäbe
es kein Paradox.
Wie schon früher erwähnt, scheinen die östlichen Mystiker
*
Mit der Lebenszeit eines bestimmten Teilchens ist immer die durchschnittliche Lebenszeit gemeint. Wegen des statistischen Charakters der subatomaren Physik sind Aussagen über einzelne Teilchen nicht möglich.
einen außerordentlichen Bewußtseinszustand erreichen zu
können, indem sie die dreidimensionale Welt des täglichen Lebens überschreiten und eine höhere, vierdimensionale Realität
erleben. So spricht Sri Aurobindo von einer »subtilen Änderung, die das Gesicht in eine Art vierter Dimension sehen
läßt«. 4 Die Dimensionen dieser Bewußtseinszustände mögen
nicht dieselben sein, mit denen wir in der relativistischen Physik
zu tun haben, aber es ist auffallend, daß sie die Mystiker zu einem Begriff von Raum und Zeit führten, der demjenigen der
Relativitätstheorie sehr nahekommt.
Die östliche Mystik hatte ein intuitives Wissen vom RaumZeit-Charakter der Wirklichkeit. Es fand vielleicht seinen klarsten Ausdruck und ist am konsequentesten durchdacht im
Buddhismus, speziell in der Avatamsaka-Schule des Mahayana-Buddhismus. Das Avatamsaka-Sutra, auf dem diese Schule
basiert (s. S. 103), gibt eine lebendige Beschreibung, wie die
Welt im Zustand der Erleuchtung erlebt wird. Das Bewußtsein
einer gegenseitigen »Durchdringung von Raum und Zeit« — ein
perfekter Ausdruck, um Raum-Zeit zu beschreiben - wird im
Sutra wiederholt betont und wird als wesentliches Merkmal des
erleuchteten Geisteszustandes angesehen. Mit D. T. Suzukis
Worten:
Die Bedeutung des Avatamsaka und seiner Philosophie ist unverständlich, sofern wir nicht einmal einen Zustand völliger Auflösung
erlebt haben, wo es keinen Unterschied zwischen Körper und Geist,
zwischen Subjekt und Objekt mehr gibt . . . Wir schauen umher und
nehmen wahr, daß jedes Objekt zu jedem anderen Objekt in Beziehung steht . . . nicht nur räumlich, auch zeitlich. Als Tatsache reiner
Erfahrung gibt es keinen Raum ohne Zeit, keine Zeit ohne Raum;
sie durchdringen einander. 5
Wenn man diese Aussage eines Interpreten fernöstlicher Mystik mit der früher zitierten Aussage von Minkowski vergleicht,
fällt auf, daß sowohl der Physiker als auch der Buddhist ihre
Begriffe von Raum-Zeit auf Erfahrung gründen; in einem Fall
auf wissenschaftliche Versuche, im anderen auf
mystische
Erfahrung.
Dieses intuitive Verständnis der Zeit in der östlichen Mystik
ist in meinen Augen einer der Hauptgründe dafür, daß ihre Anschauung der Natur der modernen Wissenschaft generell viel
mehr entspricht als die der meisten griechischen Philosophen.
Die griechische Naturphilosophie war im großen und ganzen
statisch und basierte weitgehend auf geometrischen Überlegungen. Sie war sozusagen »nicht-relativistisch«, und ihr starker Einfluß auf die westliche Denkweise ist wohl einer der
Gründe dafür, daß wir so große Schwierigkeiten mit den relativistischen Modellen der modernen Physik haben. Die östlichen
Philosophien dagegen sind »Raum-Zeit«-Philosophien, und
ihr intuitives Wissen kommt unseren modernen relativistischen
Theorien oft sehr nahe. Beide sind dynamische Weltanschauungen, die Zeit und Wandlung als wesentliche Elemente enthalten. Wenn wir die relativistischen Modelle der modernen
Physik studieren, werden wir sehen, daß sie alle eindrucksvolle
Illustrationen der beiden Grundelemente der östlichen Weltanschauung sind, der grundsätzlichen Einheit des Universums
und dessen innerlich dynamischen Charakters.
Bisher haben wir auf die »spezielle Relativitätstheorie« Bezug genommen. Sie liefert einen gemeinsamen Rahmen für die
Beschreibung der Phänomene von Körpern in
Bewegung,
Elektrizität und Magnetismus. Sein Grundzug ist die Relativität von Raum und Zeit und ihre Vereinigung in der vierdimensionalen Raum-Zeit.
Der Rahmen der »allgemeinen Relativitätstheorie« schließt
die Schwerkraft mit ein. Nach der allgemeinen Relativitätstheorie krümmt die Schwerkraft die Raum-Zeit. Sich das vorzustellen, ist wieder außerordentlich schwierig. Wir können uns
leicht eine zweidimensionale gekrümmte Oberfläche vorstellen, wie die Oberfläche eines Eies, weil wir diese gekrümmten
Oberflächen im dreidimensionalen Raum liegen sehen. Die
Bedeutung des
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