Das Tao der Physik
Wortes »Krümmung« für zweidimensionale
gekrümmte Oberflächen ist somit ganz klar, aber wenn wir zum
dreidimensionalen Raum kommen — von der vierdimensionalen Raum-Zeit gar nicht zu reden —, läßt uns unser Vorstellungsvermögen im Stich. Da wir den dreidimensionalen Raum
nicht »von außen« betrachten können, können wir uns nicht
vorstellen, wie er »in irgendeiner Richtung gebogen«
sein
kann.
Um die Bedeutung der gekrümmten Raum-Zeit zu verstehen, müssen wir zweidimensionale gekrümmte Oberflächen als
Analogien heranziehen. Stellen wir uns zum Beispiel die Oberfläche einer Kugel vor. Die entscheidende Tatsache, die eine
Analogie zur Raum-Zeit ermöglicht, ist, daß die Krümmung
eine innere Eigenschaft dieser Oberfläche ist und gemessen
werden kann, ohne daß man in den dreidimensionalen Raum
hineingeht. Ein zweidimensionales, auf die Kugeloberfläche
beschränktes Insekt, welches den dreidimensionalen Raum
nicht wahrnehmen kann, könnte dennoch herausfinden, daß
die Oberfläche, auf der es lebt, gekrümmt ist, vorausgesetzt, es
kann geometrische Messungen durchführen. Um zu sehen, wie
das funktioniert, müssen wir die Geometrie unseres Insekts auf
einer ebenen Oberfläche vergleichen.*
Zeichnung einer »Geraden« in der Ebene und auf der Kugeloberfläche
Angenommen, die beiden Insekten beginnen ihre Geometriestudien mit dem Ziehen einer Geraden, d. h. der kürzesten
Verbindung zwischen zwei Punkten. Das Ergebnis zeigt die folgende Abbildung. Wir sehen, daß das Insekt auf der ebenen
Oberfläche eine schöne gerade Linie gezogen hat, aber was tat
das Insekt auf der Kugel Oberfläche? Die Linie, die es gezogen
hat, ist für es die kürzeste Verbindung zwischen den Punkten A
und B, da alle anderen denkbaren Linienzüge länger sind; aber
* Die folgenden Beispiele sind dem Buch The Feynman Lectures on Physics von R. P. Feynman, R. B. Leighton und M. Sands entnommen, Band II, Kap.
42 (ADDISON-Wesley, Reading, Mass. 1966).
von unserem Gesichtspunkt aus ist sie eine Kurve. Nehmen wir
jetzt an, daß die beiden Insekten Dreiecke studieren. Das Insekt auf der Ebene stellt fest, daß die Winkelsumme aller Dreiecke zwei rechte Winkel, d. h. 180°, ergibt; das Insekt auf der
Kugeloberfläche stellt fest, daß die Winkelsumme seiner Dreiecke immer größer als
180° ist. Für kleine Dreiecke ist der
Überschuß klein, wird aber mit zunehmender Größe der Drei
Auf der Kugeloberfläche kann ein Dreieck drei rechte Winkel haben
ecke großer; und im Extremfall kann unser Insekt auf der Kugeloberfläche sogar Dreiecke mit drei rechten Winkeln zeichnen. Zum Schluß sollen unsere Insekten Kreise ziehen und deren Umfang messen. Das Insekt auf der Ebene stellt fest, daß
der Umfang immer 2π mal dem Radius beträgt, unabhängig
von der Größe des Kreises. Das Insekt auf der Kugel aber stellt
fest, daß der Umfang immer kleiner als 2π mal dem Radius ist.
Wie man im folgenden Bild sieht, erkennen wir aufgrund unse
res dreidimensionalen Blickpunkts, daß das, was dem Insekt als
Radius seines Kreises erscheint, in Wirklichkeit eine Kurve ist,
die immer länger ist als der wahre Radius des Kreises.
Ein Kreis auf der Kugeloberfläche
Wenn die beiden Insekten ihre Geometriestudien weiter treiben, wird das Tierchen auf der Ebene die euklidischen Axiome
und Gesetze entdecken, sein Kollege auf der Kugeloberfläche
wird aber zu anderen Erkenntnissen kommen. Der Unterschied ist für kleine geometrische Figuren klein, nimmt aber mit
zunehmender Größe der Figuren zu. Das Beispiel der beiden
Insekten zeigt, daß wir immer feststellen können, ob eine Oberfläche gekrümmt ist oder nicht, einfach durch geometrische
Messungen auf der Oberfläche, und indem man die Ergebnisse
mit denen der euklidischen Geometrie vergleicht. Gibt es eine
Diskrepanz, dann ist die Oberfläche gekrümmt, und je größer
die Diskrepanz bei gegebener Größe der Figuren, desto stärker
ist die Krümmung.
Auf die gleiche Weise können wir einen gekrümmten dreidimensionalen Raum definieren als einen Raum, in dem die
euklidische Geometrie nicht mehr gilt. Die geometrischen Gesetze in einem solchen Raum sind von anderer, nicht-euklidischer Art. Solche nicht-euklidische Geometrie wurde im neunzehnten Jahrhundert vom Mathematiker Georg Riemann als
rein abstrakte mathematische Idee eingeführt und als solche
angesehen, bis Einstein seine revolutionäre Hypothese machte,
daß unser dreidimensionaler Lebensraum tatsächlich gekrümmt ist. Nach
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