Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
sie nicht an seinen Gedanken hatte teilhaben lassen. Zu oft in ihrem Leben war sie die Spielfigur in den Plänen anderer gewesen. Und jeder, der behauptet hatte, nur ihr Bestes zu wollen, hatte sie unglücklich gemacht.
»Cass, vertrau mir«, bat Samuel und nahm ihre Hand. Das Licht der Sonne fing sich in dem blitzenden Opal an ihrem Ringfinger. »Du erwartest ein Kind. Wir können nicht immer ziellos auf einem Pferd durch das Land jagen. In der vergangenen Nacht war ich bei Scheyfve. Heute Abend findet bei Hof ein Fest statt. Es ist eine günstige Gelegenheit, um unbemerkt über die Themse zu entfliehen. Er wird uns Geld geben und meine Familie benachrichtigen. Wir haben Freunde, und wir haben genügend Mittel, um uns zu schützen.«
»Wir?« Cass schlug die Augen nieder und richtete sich im Gras auf. »Ich habe nichts, und ich erwarte ein Kind von einem Mann, der ...«
»Nicht!«, unterbrach Samuel sie. »Du hast dich in Antoine de Selve getäuscht, aber du liebst das Kind, das in dir wächst, und darum werde auch ich es lieben. Ich kann es, glaube mir.«
Cass schluckte Tränen, die Kehle wurde ihr eng. »Aber ich weiß nicht, ob ich es kann!«, stieß sie verzweifelt hervor. »Meine Mutter konnte es nicht, und ...«
»Du bist ganz anders als sie.«
Cass drehte sich von ihm weg, zog die Knie an und umschlang sie mit ihren Armen. »Ja, das bin ich Samuel«, sagte sie leise. »Ich habe sie gehasst! Ich habe sie so sehr gehasst, dass ich all die Jahre vergessen habe, was man ihr im Tower angetan hat.«
»Du warst ein Kind, und es war besser so«, sagte Samuel eindringlich. Er legte die Hand auf ihren Rücken.
»Du weißt nicht, wie es war, mit diesem Propheten zu sprechen.« Cass erstarrte. »Er hat zu mir in einer Sprache gesprochen, die er die Sprache der Engel nannte. Ich kannte sie nur als eine verzweifelte Erfindung meiner Mutter, und auch das hatte ich vergessen.«
Samuel runzelte die Stirn. »Er ist einer der Männer, die deine Mutter gefoltert haben. Er mag jetzt mit Engelszungen sprechen, aber ihn umgibt der Gestank der Sünde, wie ein aufgebrochenes Grab.«
Cass schauderte. »Ich weiß, aber ... Samuel, durch ihn habe ich begriffen, was meine Mutter mir im Tower zu sagen versuchte.
Und ich habe seine Qual gespürt, so wie er den Schmerz meiner Mutter gespürt hat, als ich es nicht konnte.«
Samuel fasste sie bei den Schultern und wollte sie an sich ziehen, aber sie wehrte ihn ab. Samuel grub seine Hände fester in ihre Schultern, als würde sie ihm entgleiten. Seine Augen wurden dunkel. »Cass, du darfst diesem Mann nicht trauen. Das Böse der Welt ist immer da, wo wir es am wenigsten vermuten.«
Cass schüttelte seine Hände von ihren Schultern, löste die Arme von ihren Knien und drehte sich in einer heftigen Bewegung zu ihm um. »Und was ist, wenn das Gegenteil genauso wahr ist? Wenn das Gute mitunter mitten im Bösen ist?«
»Auf dem Markt von Newgate war dir der Prophet alles andere als eine Hilfe«, warnte Samuel.
»Doch, das war er«, gab Cass trotzig zurück. »Er hat mich sehen und fühlen lassen, was kein anderer bisher von mir wusste. Ich habe niemals einen Menschen geliebt, und ich habe Gott zutiefst verachtet.«
»Du täuschst dich. Nur wer geliebt hat, kennt den Hass und den Zorn. Deine Mutter ertrug alles für einen Gott, der ein erbarmungsloser Beobachter war, der ihr nichts gab, was sich zu lieben lohnte, und der entschieden hat, dass sie von dir getrennt wird. Dein Hass war nichts anderes als eine Liebe, die unerwidert blieb.«
Cass wischte sich über die Augen, neue Tränen strömten nach. »Nein, sie ist nicht unerwidert geblieben. Unter der Folter, nach entsetzlichen Qualen, hat meine Mutter mir etwas mitgeteilt, dass allein mir galt. Aber ich habe es nicht verstanden: Öffne dein Herz nur, wenn dein Gott in dir es verlangt. Das habe ich nie getan, Samuel. Ich habe einen solchen Gott nicht in mir. Verstehst du nun? Ich weiß einfach nicht, ob ich lieben kann. Und das ist meine Hölle.«
»Wem hättest du denn vertrauen sollen? Lord Dudley wohl kaum. Dein Herz war klug genug, stumm zu bleiben.«
Cass reckte das Kinn. »Geh mit mir noch einmal nach Greenwich zurück. Ich muss zu Master Enoch. Was auch immer er getan hat, es hat ihn gelehrt, Gefühle zu lesen, die jedem anderen Menschen verborgen sind. Er wird mir zeigen, wer ich wirklich bin.«
»Cass, er ist kein Seelenfischer, er ist ein Seelen fänger. Wie der Teufel.«
4.
G REENWICH P ALACE
F REITAG, 6. J ULI AM
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