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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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flüchtete er sich, als die Spötter seine Verstecke gefunden hatten. Hier im Beichtstuhl war er sicher. Keiner seiner Feinde würde sich hierher, an diesen verbotenen Ort der Wahrheit, wagen. Jean-Louis zog den Vorhang zu und harrte aus. Die Worte Pierre Jaquet-Droz’ klangen in seinem Kopf, aber sie hatten ihre Magie verloren. Jean-Louis war im Besitz seiner Werkzeuge, gewiss, aber etwas war erschüttert worden. Das Gelächter der anderen zerrte an seinem Glauben an die Mechanik, daran, dass es tatsächlich möglich sein sollte, Ideen und Phantasien ohne Einschränkung mechanisch umsetzen zu können.
    »Was fällt dir ein!«, platzte eine harte Stimme in seine Gedanken. Bruder Pius, der die Nacht über wie üblich kaum ein Auge zugetan hatte und den ersten morgendlichen Rundgang machte, starrte ihn mit seinen von dunklen Ringen umrahmten Augen an.
    »Darf ich dich bitten, mir zu erklären, was du hier im Beichtstuhl treibst?«, wiederholte er seine Frage. Jean-Louis starrte ihn nur an.
    »Was immer du hier auch machst, Jean-Louis, das darf ich so nicht stehen lassen!«, verkündete Bruder Pius halb erbost, halb besorgt, »das muss ich Abbé Lavière protokollieren,
und er wird entscheiden! Überhaupt, hast du denn keinen Unterricht heute?«
    Abbé Lavière blickte streng. Die in Autorität verkehrte Ehrfurcht und die rituelle Gewissenhaftigkeit eines ganzen Lebens hatten in diesem faltigen Gesicht ihre Spuren hinterlassen. Die Unterredung, sofern man die paar dahingeflüsterten Worte als solche bezeichnen konnte, dauerte nicht länger als zwei Minuten. Nachdem Bruder Pius protokolliert hatte, schwieg der Abbé unendlich lange und starrte Jean-Louis fordernd an. Bruder Pius machte ein besorgtes Gesicht, so als fürchtete er nicht nur um das Schicksal seines Zöglings, sondern auch um sein eigenes. Dann flüsterte Abbé Lavière etwas, das Jean-Louis nicht verstehen konnte. Bruder Pius nickte rasch und packte Jean-Louis am Arm.
    »Fünfzehn Stunden«, sagte Bruder Pius geradezu erleichtert, »fünfzehn Stunden in den Kerker, das wird dir guttun, das gibt dir Zeit zur Besinnung!«
    Der Kerker, das war ein Loch im Kellergeschoss, da wo Holz für den Winter, Wein für den Abbé, Obst für die Schüler und alte, defekte Fuhrwerke gelagert wurden. Weit hinten öffnete Bruder Pius eine dicke, mit mehreren Schlössern und einem Verriegelungsbalken versehene Eichentür, stieß Jean-Louis hinein und schloss ab. Es stank nach Moder, faulen Äpfeln, morschem, weingetränktem Holz. Der Lehmboden war feucht, die Wände kalt und schimmelig. An der Stirnseite des Raums führte ein Schacht hinauf an die Erdoberfläche und ließ etwas Licht herein. Nachdem sich Jean-Louis’ Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er ein paar Steine
am Boden. Er setzte sich auf den größten, der nah an die Wand gerollt worden war. Hier hatten schon einige seiner Mitschüler gesessen, ausgeharrt, gegrübelt, nachgedacht, geheult wahrscheinlich. Fünfzehn Stunden. Jetzt war drei Uhr nachmittags. Die ganze Nacht, bis sechs Uhr morgens sollte er hier in diesem Höllenloch verbringen. Jean-Louis klammerte seinen Blick an den Lichtschimmer, der aus dem feuchten Lehmboden und den Steinen eine Mondlandschaft zeichnete. Die Stunden verstrichen in nie erlebter Langsamkeit. Irgendwann abends, es war schon fast ganz dunkel im Loch, riss Bruder Pius die schwere Eichentür noch einmal auf. Ohne ein Wort zu verlieren, stellte er einen brennenden Kerzenstummel und einen Krug Wasser auf den Boden, legte ein in Papier gewickeltes Stück Brot dazu, dann rumpelten wieder die Schlösser. Damit hatte Jean-Louis nicht gerechnet. Erleichtert schlürfte er das Wasser. Aber kaum hatte er den Krug abgesetzt, hörte er ein leises Rascheln, dann ein Keifen und Pfeifen. Und jetzt, im flackernden Kerzenlicht, sah er eine Ratte, die sich gerade über sein Stück Brot hermachte. Eine zweite Ratte kam durch den Spalt unter der Tür gekrochen und wollte sich ebenfalls auf den Leckerbissen stürzen. Panisch und wütend schlug Jean-Louis mit den Schuhen gegen die Angreifer, spürte aber, wie sie sich auflehnten und gegen seine Schläge stemmten. Schließlich gelang es ihm, die widerborstigen Viecher zur Eichentür zurück und unter den Spalt hindurch zu vertreiben. Schnell sammelte er alle Steine zusammen und verbarrikadierte das Loch. Der kleine Kerzenstummel, den Bruder Pius ihm hingestellt hatte, konnte nicht die ganze Nacht durchhalten, und in der Dunkelheit

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