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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Pferde einspannen, setzte Ana mit ihrem Schachspiel in die Kutsche und führte den Kutscher über verschlungene Wege Richtung Nizza, an den Rand der Stadt, zu der alten, verfallenen Hütte, in der Giovanna noch immer lebte, die erste Ziehmutter, die es geschafft hatte, Ana zu beruhigen. Das war vor sieben Jahren gewesen. Die Hütte machte nun einen noch hässlicheren,
noch verfalleneren Eindruck. Aber Giovanna hatte sich nicht verändert. Mit zwei Säuglingen auf dem Arm trat sie vor die Tür. Sie erkannte den Grafen sofort. Und als sie Ana in der Kutsche sitzen sah, brach sie in Tränen aus vor Freude, setzte in der Euphorie die Kinder auf den Boden, zerrte Ana regelrecht aus der Kutsche heraus und schlang ihre weichen Arme um sie, drückte sie gegen ihre großen Brüste und küsste sie auf die Wangen. Ana ließ es erstaunlicherweise geschehen, wiegte den Kopf heftig hin und her und gab Laute von sich, als wollte sie etwas sagen.
    »Ich mache dir ein Angebot, Giovanna«, sagte Graf de la Tour, ohne von seinem Pferd abzusteigen. »Kümmere dich um Ana, zieh sie groß, und dafür zahl ich dir ein Auskommen für meine Tochter, das großzügig genug ist, damit auch für dich etwas übrig bleibt. Ich werde dir die Rente zweimal im Jahr auszahlen, und dies bis zum sechzehnten Lebensjahr meiner Tochter. Da, das ist die erste Rate.« Graf de la Tour warf Giovanna einen Geldbeutel vor die Füße. Die Münzen klingelten, viel mehr sagte der Graf nicht und gab dem Kutscher ein Zeichen zur Rückkehr. Dann ließ er jedoch noch einmal anhalten.
    Der Kutscher stieg von seinem Bock herunter, holte das Schachspiel aus der Kabine und reichte es Giovanna.
    »Das gehört dem Kind«, sagte er trocken und kehrte auf seinen Bock zurück. Giovanna drückte Ana an sich und sah das Gespann zwischen den Bäumen im Wald verschwinden.

6
    Giovanna war eine große, feinfühlige, warmherzige, von harten Schicksalsschlägen gestärkte Frau, die in den mehr als zwanzig Jahren seit dem Tod ihres eigenen Sohnes über dreißig Kinder bei sich betreut und großgezogen hatte. Sie war die Einzige, die es geschafft hatte, Ana auf den Arm zu nehmen und sie an sich zu drücken, ohne von ihr abgewiesen zu werden. Sie war es auch jetzt wieder, die es auf Anhieb schaffte, Ana innerhalb der Gruppe von fünf Kindern so zu führen, dass sie sich darin ohne Widerstand und ohne hysterische Anfälle zurechtfand. Während die anderen Kinder sich balgten und zankten, spielte Ana unter dem Tisch mit den Schachfiguren. Während die anderen Kinder sich draußen versteckten und sich gegenseitig zu fangen versuchten, legte Ana konzentriert Kieselsteine in lange Reihen, legte stundenlang Holzscheite zu Türmen aufeinander, setzte Fuß vor Fuß auf ein Stück Schnur am Boden, ohne dass die anderen Kinder sie in ihrer Tätigkeit störten. All das war Giovannas Verdienst. Jeder hatte das Recht auf seine Eigenart, seine Vorlieben und Bedürfnisse. Diese zu respektieren war in Giovannas Haus oberstes Gebot. Das zweite Gebot war die tägliche gemeinsame Lektüre eines Psalms aus der Bibel vor dem Schlafengehen. Diese täglichen Vorleseminuten hatten eine magische Wirkung auf Ana. Sie setzte sich jedes Mal
neben Giovanna, wollte unbedingt die bedruckten Seiten sehen, sprach halblaut nach, was sie hörte, bis Giovanna bemerkte, dass Ana nicht nachsprach, sondern mitlas.
    »Du kannst lesen?«, unterbrach sie die Lektüre des Psalms erstaunt, und Ana las im selben halblauten Ton weiter.
    »Hört ihr das? Seht ihr das! Ana kann lesen! Die Adelsleute haben’s ja auch eilig mit der Erziehung!«
    Und von nun an las Ana jeden Abend den Psalm, den Giovanna ihr aufschlug. Aber schnell bemerkte sie, dass sie die Psalmen gar nicht mehr vorschlagen musste, denn Ana hatte die Bibel immer bereits am richtigen Ort aufgeschlagen und las dort weiter, wo sie am Vorabend aufgehört hatten. Niemandem war aufgefallen, dass Ana beim Lesen eine flüssigere Aussprache und eine genauere Intonation hatte, als wenn sie mit jemandem sprach. Denn beim freien Reden wiederholte sie oft einfach die Frage, die ihr jemand stellte, oder das, was jemand zu ihr oder zu jemand anderem sagte. Wenn sie tatsächlich zu antworten versuchte, verstrickte sie sich in falschen Satzkonstruktionen, zusammenhanglosen Bemerkungen und wirren Gedankengängen, so dass die anderen fünf Kinder sich erst über sie lustig machten und später das Interesse an ihr verloren. Das tägliche Vorlesen der Bibelpsalmen aber verschaffte Ana

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