Das taube Herz
am Stuhl fest, legte das Becken darunter und stach mit einer großen Nadel in die Vene der Armbeuge. Ana schrie und zappelte, aber Gattomo wusste, wie er sie halten musste, um zu seinem Ziel zu kommen. Das verlorene Blut schwächte Ana so, dass ihr Widerstand wich, und nach und nach ließ sie mit sich machen, was Gattomo von ihr verlangte. Auf den Aderlass folgten ein kaltes Bad und eine heiße Dusche. Darauf band er Ana an den Füßen fest und ließ sie zwanzig Minuten kopfüber hängen, um sie danach noch einmal ins kalte Bad zu legen und sie abschließend heiß zu duschen. Um für die Behandlung freie Hand zu haben, fesselte Gattomo seine kleine Patientin und trug sie von einem Ort zum nächsten, machte Notizen, maß die Temperatur in ihrem Mund vor und nach dem Bad, vor und nach der Hängung, notierte die Messwerte, machte Zeichnungen und mixte eine dunkle, stinkende Paste, die er Ana auf Beine und Arme strich, trocknen ließ, um sie hernach mit einem Löffel wieder abzuschaben. Dies alles vollzog Gattomo, ohne sich auch nur ein einziges Mal mit einem erklärenden Wort an Graf de la Tour zu wenden. Das Einzige, was Gattomo nach zweistündiger Behandlung sagte, war: »Geben Sie Ihrer Tochter diese Tropfen während drei Wochen, fünf am Morgen und fünf am Abend. Kommen Sie danach wieder. Es wird alles gut werden.«
Graf de la Tour betrachtete das Fläschchen mit den Tropfen und die Rechnung, die Gattomo, ohne mit der Wimper zu zucken, für ihn ausstellte.
Ana saß am Boden und spielte mit den Schachfiguren
des Doktor Meylan. Sie war müde von all den kräftezehrenden Behandlungen, aber das Schachspiel weckte ihre volle Konzentration.
»Danke, Herr Doktor«, sagte Graf de la Tour, zahlte, nahm das Fläschchen und seine Tochter und schlug die Tür hinter sich zu.
Nun folgte eine ganze Reihe von Ärzten, die sich auf Schloss La Tour ablösten und die verschiedensten Medikamente, Heilmethoden und Techniken anwendeten und ausprobierten. Ana wurde nach und nach ruhiger, ließ die Behandlungen geduldig über sich ergehen, ihre Augen wichen jedoch nach wie vor jedem Versuch, mit ihr Blickkontakt aufzunehmen, aus. Auf Fragen antwortete sie, indem sie die Frage wiederholte, und jegliche körperliche Berührung versetzte sie in Rage. Sie blickte stets zur Seite oder zu Boden, wiegte sich heftig, wenn ihr jemand zu nahe kam, und führte wirre Selbstgespräche. Am liebsten hielt sie sich in der dunklen, fensterlosen Kammer auf, in der sie seit ihrer Geburt mit den verschiedenen Ziehmüttern und Kindermädchen gewohnt hatte, spielte nun regelmäßig und stundenlang mit den Schachfiguren des Doktor Meylan, bildete Reihen und Schlangen, ordnete die Figuren in geometrischen Formen an, stellte sie so um, dass aus einem Quadrat ein Fünfeck wurde, ein Sechseck, ein Trapez und wieder ein Quadrat. Sie bildete Kreuze und Formen aller Art und in allen möglichen Schwarz-Weiß-Mischungen. Graf de la Tour tolerierte dieses Spiel seiner Tochter, obwohl es ihn zutiefst deprimierte. Es beleidigte ihn geradezu, dass seine Tochter ausgerechnet sein Lieblingsspiel, das Spiel von Strategie, Taktik und Intelligenz
so verunglimpfte und zweckverfremdete. Nicht einmal Schach konnte er mit seiner Tochter spielen, obwohl sie beide eine so starke Affinität gerade für dieses Spiel hegten, sich über die Regeln aber nicht verständigen konnten. So wenig wie Ana die richtigen Regeln des Schachspiels verstand, so wenig konnte der Graf die Regeln verstehen, nach denen Ana die Figuren auf dem karierten Brett aufund umstellte. Obwohl er hin und wieder wohlgeformte Ordnungen in den Aufstellungen erkennen konnte, so ließ Ana sich doch von Chaos und Zufall treiben, statt sich Konventionen und Spielregeln zu unterwerfen.
Graf de la Tour hatte für die medizinische Behandlung seiner Tochter bereits ein kleines Vermögen ausgegeben, das er eigentlich gar nicht besaß. Nach dem Besuch eines wieder einmal Hoffnung versprechenden spanischen Arztes, der extra aus Barcelona angereist war, um sich des kuriosen Falls von Ana de la Tour anzunehmen, ihn zu studieren und zu protokollieren, der dann aber unverrichteter Dinge wieder abreiste wie etliche Ärzte vor ihm, traf Philibert Graf de la Tour eine letzte, schicksalhafte Entscheidung. Seine Finanzen hatten sich in eine sehr kritische Schieflage hineinentwickelt, so dass weitere Behandlungen durch Spezialisten nicht mehr infrage kamen.
Wieder einmal, und zum letzten Mal, wie er sich vornahm, ließ er die
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