Das taube Herz
kleine, nackte Körper, der darunter zum Vorschein kam, war bleich und bis auf die Knochen abgemagert. Mit den beiden Wörtern »Kopf« und »kaputt« und einigen hilflosen Gesten erklärte sie, dass sie fürchterliche Kopfschmerzen habe. Sie rollte sich ein wie ein krankes Tier und blieb laut wimmernd auf dem Bett liegen. Die Gräfin flüchtete, die Welt verwünschend, in ihr Schlafgemach, und die Magd bedeckte Ana mit einem leichten Seidentuch. Als sie die Kerzen löschte und die Tür schloss, beruhigte sich das Wimmern ein wenig, um dann aber umso heftiger aufzubrausen, als
die Magd die Tür wieder öffnete und die Kammer mit einer Kerze betrat. Ana schien das Licht nicht zu vertragen und versuchte mehrmals, der Magd die Kerze aus der Hand zu schlagen. Fünf Tage und fünf Nächte wurde Ana in fast vollständiger Dunkelheit versorgt, ohne dass sich ihr Zustand verbesserte. Jeden Morgen erkundigte sich Graf de la Tour bei den Bediensteten nach seiner Tochter, weigerte sich jedoch, selbst einen Augenschein von ihr zu nehmen, die Hoffnung nicht aufgebend, dass die Heilkünste und Versprechungen Cagliostros doch noch in Erfüllung gehen würden. Das Gegenteil trat ein, und der Graf sah sich genötigt, eine Entscheidung zu treffen, um nicht in den Ruch der Verwahrlosung seines eigenen Kindes zu geraten.
Wieder ließ er die Kutsche einspannen. Ana musste er diesmal nicht fesseln, so geschwächt war sie, so abgemagert, dass sie nicht mal mehr auf eigenen Beinen stehen konnte. Der Knecht musste Ana von der Kammer auf den Hof hinaustragen, wo er das vor Fieber und Panik heiße, schwitzende und schlotternde Mädchen zwischen die Bänke auf den Boden der Kutsche legte.
Der nächste Arzt befand sich in Nizza. Graf de la Tour zog es jedoch vor, den etwas weiteren Weg nach Antibes auf sich zu nehmen, um den Gerüchten und Lügengeschichten über seine Tochter, seine Frau und sich selbst nicht noch mehr Stoff zu liefern. Aber ganz verhindern konnte er das auch in Antibes nicht. Überall lauerten intrigante Zofen, gierige Klatschtanten, redselige Knechte, Gaffer und Gerüchteschmiede aller Art, so auch im Haus des Arztes Meylan, der sein kleines Anwesen mit sieben Hektar Land in einen kleinen Betrieb mit Gemüsebau und
Weinreben, einigen Ziegen, zwei Kühen und einer Arztpraxis im Parterre umfunktioniert hatte.
Meylan ließ sich das Kind vom Kutscher in sein Untersuchungszimmer tragen. Wie tot lag Ana auf dem Bett, wimmerte mit offenen Augen, während Doktor Meylan sein Ohr auf ihre Brust legte und Herz und Lunge abhörte, sich ihre Zunge anschaute, die Handflächen, die Lymphknoten abtastete. Normalerweise reagierte Ana auf solche Berührungen mit wilden, aggressiven Gesten und wüsten Lauten, aber jetzt ließ sie alles geduldig mit sich machen, in ihren Gliedern schien kaum ein Funken Leben mehr.
Der Doktor legte eine Decke über Ana, rief die Magd und bestellte eine Suppe und weiches Brot. Dann wandte er sich an den besorgten Vater.
»Ihre Tochter ist völlig unterernährt«, sagte er mit besorgter Miene, »zudem scheint es mir, dass sie sich gerade von einer gehörigen Betäubung erholt. Ich nehme an, dass sie in den Genuss der wundersamen Heilkünste Cagliostros gekommen ist.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte der Graf schockiert darüber, wie weit sich alles herumsprach.
»Das sagt mir Ihre Tochter. Ich brauche sie nur anzuschauen. Sie ist inzwischen der fünfte Fall, der mir in einem Monat hier begegnet. Jeder Fall mehr oder weniger schwer. Ihre Tochter scheint es ziemlich heftig erwischt zu haben.«
»Was meinen Sie denn damit? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, das sei gar keine Medizin gewesen, die dieser Quacksalber uns verkauft hat?«
»Eine Medizin kann man das Gesöff allerdings nicht nennen. Ein Gemisch aus Salpeter, verschiedenen Salzen,
Kräutersud und vor allem, und das ist die Substanz, die Ihrer Tochter so heftig zugesetzt hat, einige Anteile aus getrockneten Fliegenpilzen. Fliegenpilze erzeugen einen rauschartigen Zustand und Halluzinationen. Kopfschmerzen, Bauchweh und Erbrechen sind die normalen Nebenwirkungen, an denen Ana leidet. Lassen Sie mir Ihre Tochter für diese Nacht und den nächsten Tag hier. Sie muss erst mal wieder zu Kräften kommen.«
Graf de la Tour erbleichte. Wie konnte er auf so einen Scharlatan hereinfallen! Wie konnte dieses Scheusal seine Tochter so behandeln! Ein Glück, dass Ana die Tortur überlebt hatte und nun in guten Händen war. Aber auch diese guten Hände hatten
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