Das taube Herz
Kübel Eiswasser über ihren Kopf und wiederholte das Prozedere, bis sie sich vor Erschöpfung beruhigte.
Da die Anfälle am Tag darauf von Neuem ausbrachen, verordnete der Oberarzt einen Aderlass, gefolgt von einem lauwarmen Bad und einer Darmkur. Aber Ana schüttelte und wehrte sich so heftig, biss und kratzte nach allen Seiten, dass es unmöglich war, ihren Arm für den Aderlass zu fassen. Also holte man ein mit warmem Wasser gefülltes
Becken, band ihre Beine so am Stuhl fest, dass sie die Füße im Wasser nicht mehr bewegen konnte, und fügte ein halbes Duzend Blutegel hinzu. Die Tiere saugten sich sofort an den Füßen fest und füllten sich mit Blut. Dann schnitt der Arzt den Tieren die Schwänze ab, und das Blut floss in das Becken. Nach und nach lösten sich die Köpfe der Blutegel wieder, und Ana hörte auf zu schreien. Darauf legte man sie in ein warmes Bad und verabreichte ihr ein braunes, stinkendes Getränk aus alten, halb vergorenen Pflaumen, Rhabarber und Rizinusöl. Die Wirkung trat eine Stunde später ein. Ana beugte und streckte sich vor Bauchschmerzen, erbrach, was sie in ihrem Magen hatte, und verlor den Rest durch einen mehrere Stunden anhaltenden Durchfall.
Aber es half alles nichts. Ana fand nach allen Therapien und Behandlungsformen, nach allen Medikamenten und Säften, Salben und Dämpfen immer wieder zu ihrer alten Verhaltensweise zurück, verkroch sich unter dem Laubsack in ihrer Ecke und ließ sich von niemandem anfassen, redete mit niemandem, aß nur das Notwendigste. Und da alle sich bald an ihre Ecke im Schlafraum gewöhnt hatten und Ana sonst keine weiteren Probleme machte, beschloss der Oberarzt, den Fall Ana als unkurierbar aufzugeben.
Den Rest ihrer Kindheit verbrachte Ana nun still und unscheinbar in der Gruppe von halb verwilderten Kindern, die mit ihr den großen Schlafraum teilten. Am täglichen Kampf um Essen, Kleider und Macht nahm das eigenartige Mädchen kaum teil. Die meisten hielten sie für stumm, da Ana manchmal monatelang nicht sprach. Andere glaubten, sie spreche eine fremde Sprache. Die betreuenden Mägde sahen in Ana den hoffnungslosen Fall einer Irren.
Und die Nonnen waren überzeugt, sie sei vom Teufel besessen, entführten sie eines Nachts aus dem Hospice, brachten sie in die geheimen Katakomben einer kleinen Kapelle, rasierten ihr die Haare ab, wuschen sie mit Weihwasser, belegten ihren nackten Körper mit Kreuzen, klopften sie mit Ruten aus, badeten sie in Blut und Schlamm, bewarfen sie mit heißer Asche und trieben sie mit lauten Rufen durch den Raum, während oben in der Kapelle drei Schwestern Stoßgebete rezitierten, Gott und die heilige Mutter um Vergebung und Mitleid und Heilung anflehten.
Ana aber blieb unbezähmbar. Der Teufel wollte nicht aus ihr weichen. Angewidert, angeekelt und von Panik ergriffen warfen die Nonnen das befleckte Mädchen vor die Tür wie Abfall und verstießen es für immer und ewig aus dem Reich Gottes.
Einen ganzen Tag und eine Nacht irrte Ana, nur in ein zerrissenes Laken gehüllt, durch die Stadt, bis sie, wie ein ausgesetztes Tier, das zu seiner Brutstätte zurückkehrt, zum Hospice gelangte, wo man sie in ihr Zimmer zurückbrachte.
Kinder und Erwachsene im Hospice hüteten sich allmählich davor, Ana zu nahe zu kommen, da plötzlich die Angst grassierte, von ihrer unbekannten, fürchterlichen Krankheit angesteckt zu werden. Hin und wieder versuchte einer der jungen Ärzte, sich dem erstaunlichen Fall anzunehmen, probierte erneut Fesselungen, kalte und heiße Bäder, ekelhafte Geruchsinhalationen, Stirnbohrungen und Räucherungen der Vagina aus. Einer von ihnen behauptete gar, er habe drei haselnussgroße schwarze Knollen durch die Nase aus dem Hirn der Patientin gezogen. Alles ohne Erfolg. Einer nach dem andern gab den Fall früher oder später wieder auf, und Ana verzog sich auf den
Laubsack in ihrer Ecke des Schlafsaals, um sich dort von den Torturen zu erholen, mit Kieselsteinen zu spielen, an ihrem verfilzten Haar zu zupfen oder stundenlang einfach nur den Kopf hin und her zu wiegen und dazu halblaut Unverständliches vor sich hin zu singen.
So verstrichen die Jahre. Inzwischen hatte Ana ihren festen Platz im Hospice, bewegte sich in ihren eigenen, eingespielten, von allen anderen Menschen isolierten Bahnen.
Im zwölften Jahr von Anas Aufenthalt im Hospice traf eines Morgens ein Bote ein und überbrachte einen Briefumschlag und einen großen Beutel voller Geld. Der kürzlich verstorbene Philibert Graf de la
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