Das taube Herz
neuen Respekt und Achtung in der Gruppe. Nun ließ man sie in Ruhe und lauschte abends andächtig ihrem hellen, einschläfernden Singsang.
Aber kaum hatte Ana sich an das neue, aufregende und interessante Leben gewöhnt, kaum zwei Wochen nachdem ihre Ziehmutter von Graf de la Tour über einen Boten die dritte Rente erhalten hatte, erwachte Giovanna eines Morgens mit einem stechenden Schmerz in der Brust. Sie
fühlte sich fiebrig, und als sie aufstand, war ihr so schwindlig, dass sie sich festhalten musste. Kurz nach dem Frühstück erbrach sie Blut und musste sich wieder hinlegen. Die sechs Kinder scharten sich besorgt um Giovannas Bett, aber die unbezwingbare Mutter beruhigte sie alle, nahm die Kleinsten unter die Decke und schickte Tristan, den Größten, in die Stadt, um Brot und eine Flasche Quittenbrand zu holen. Auf dem Rückweg sollte er mit dem Rest des Geldes in der Kapelle eine Kerze kaufen und sie der heiligen Mutter Gottes zu Ehren anzünden. Aber noch bevor Tristan aus der Stadt zurück war, hatte Giovanna noch mehr Blut erbrochen und war vom zunehmenden Fieber so mitgenommen, dass sie die um sie herumkrabbelnden Kinder kaum mehr wiedererkannte. Gegen Abend nahm sie einen großen Schluck Quittenschnaps und sank auf das Kissen nieder, um sich daraus nie wieder zu erheben.
Danach ging alles sehr schnell. Tristan lief zu den nächsten Nachbarn, fand einen hilfsbereiten Bauern, dieser ritt zum Arzt, der Arzt erledigte erst alle seine Fälle im Behandlungszimmer, vertilgte die Hälfte eines Schmorbratens im Esszimmer, machte ein Nickerchen im Schlafzimmer und fuhr dann, erschlagen von der Arbeit und vom Essen, in seiner Kutsche zu Giovannas Haus. Die sechs Kinder saßen auf dem Bett und betrachteten die schlafende Giovanna sorgenvoll. Den Kopf hatte sie leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen, das Haar offen und ungekämmt. Nur die silbernen Ohrringe hatten nichts von ihrem Glanz verloren. Der Arzt tastete Giovannas Hals ab, zog ihr die Augenlider kurz hoch, dann flüsterte er Tristan etwas ins Ohr, so dass der sich sofort die Jacke überzog und zur Tür hinaus und davonrannte.
Eine Stunde später erteilte der Pfarre Giovanna die letzte Ölung. Dann wurde das Laken über ihr Gesicht gezogen, und die Kinder mussten den Raum verlassen.
Wohin mit den Kindern?, fragte der Pfarrer, der, vom Arzt mit Giovanna und den sechs Kindern allein gelassen, sich um die Bestattung und die Liquidierung der Hütte und der paar wenigen Habseligkeiten der Hinterlassenschaft kümmern musste. Die zwei Kleinsten brachte er bei Ammen in der Stadt unter, zwei andere konnte er an die Eltern zurückgeben. Tristan hingegen war Waise und zu groß, um bei einer Amme Platz zu finden. Von Ana konnte er nicht erfahren, wer ihre Eltern waren, noch wie und warum sie bei Giovanna in Obhut gekommen war. Ihr seltsames Verhalten machte es ihm überhaupt unmöglich, von ihr auch nur irgendetwas in Erfahrung zu bringen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als das verstörte Mädchen und den auf sich allein gestellten Jungen ins Hospice de la Charité am Fuß des Schlosses zu bringen, den einzigen Ort in Nizza, der Alte und Kranke sowie verwahrloste, verstoßene Kinder aufnahm.
Giovannas Hütte mitsamt den Betten und Schränken, dem Küchentisch und den Stühlen verkaufte der Pfarrer für einen lächerlichen Preis an den benachbarten Bauern. Etwas Geschirr, eine Pendeluhr und ein Schachspiel mit in Ebenholz geschnitzten Figuren verkaufte er auf dem Markt, um mit dem Geld Giovannas Beerdigung zu bezahlen sowie das erste halbe Jahr für Tristan und Ana im Hospice de la Charité.
7
Als der Pfarrer Ana ins Hospice brachte, war sie ruhig und in sich gekehrt, abwesend, als wäre sie gar nicht bei Bewusstsein. Willenlos ließ sie sich hin und her schieben, machte kleine, ziellose Schritte und sank im Schlafsaal, wo man sie unterbrachte, auf den Boden nieder. Gegen Abend hatte sie sich in einer Ecke unter einen Laubsack verkrochen. Als die Mägde sie am darauf folgenden Morgen für das Essen darunter hervorholen wollten, schrie und tobte Ana so heftig, dass die Nonnen und alle gerade anwesenden Fuhrleute, Knechte und Kinder in Scharen herbeirannten. Zwei Ärzte mussten gerufen werden, um Ana in eine Zwangsjacke zu stecken und sie zur Beruhigung in eine leere Zelle zu bringen. Es folgten mehrere kalte Duschen. Dann band man ihr die ausgebreiteten Arme und gespreizten Beine in einem Holzrahmen fest. Alle zehn Minuten kippte ein Helfer einen
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