Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
Vom Netzwerk:
ihren Preis, wie der Graf am folgenden Tag feststellen musste. Nicht nur, dass er seine eigene Übernachtung und diejenige seines Kutschers mitsamt den beiden Pferden in der Auberge zu bezahlen hatte, die Betreuung seiner Tochter durch den Arzt Meylan höchstpersönlich kostete gerade noch einmal so viel, ganz zu schweigen von den Kosten für die verabreichte Kost, für das Bett, in dem sie schlief, für das Nachthemd, das die Hausherrin ihr auslieh, den Topf, den sie benutzte. Und mit jeder Stunde, mit jeder Geste wurde die Liste länger.
    Nach einer äußerst unruhigen Nacht fand Graf de la Tour seine Tochter im Studierzimmer des Arztes wieder. Still saß sie auf einem Stuhl, den Blick zur Seite gewandt, neben sich ein Tischchen mit Tee und Gebäck. Vor ihr stand ein großes Schachspiel mit aus Mahagoniholz geschnitzten Figuren. Wie unbeteiligt und ohne einen Blick darauf zu werfen, schob Ana Figuren darauf hin und her, stellte sie in Reihen, längs und quer, geordnet nach Größe, gruppiert nach Farbe. Ihre Finger spielten mit diesen Figuren,
als spielte sie auf einem Instrument, als folgte sie einer vorgegebenen Partitur. Graf de la Tour nahm den schwarzen König zur Hand und bestaunte die feine Ausarbeitung.
    »Ein sehr schönes Spiel haben Sie da!«
    »Kommt aus Indien, ein Geschenk meines verrückten Onkels. Er ruiniert sich regelmäßig mit unnützen Geschenken, die er anderen macht. Ich selbst spiele nämlich kein Schach. Aber Ihre Tochter scheint es ganz schön zu interessieren. Es ist das Einzige, womit ich sie bisher habe beruhigen können. Seit sie das Spiel hat, sitzt sie ruhig da, akzeptiert Essen und Getränk, und ich kann sogar mit ihr reden. Sie antwortet zwar noch nicht, aber ich nehme an, dass sie sehr gut versteht, was ich zu ihr sage. Dennoch sieht meine Diagnose nicht gut aus.«
    Graf de la Tour horchte auf. Er hatte sich bereits etwas entspannt, war erleichtert darüber, dass Ana sich beruhigt hatte, schöpfte neue Hoffnung auf Heilung und gewann Vertrauen in die Kompetenz dieses Arztes.
    »Cagliostros Tortur hat bestimmt nichts Gutes zu den Problemen Ihrer Tochter beigetragen, im Gegenteil. Mir ist so ein Fall noch nie begegnet. Aber höchstwahrscheinlich, höchstwahrscheinlich, und glauben Sie mir, es handelt sich hier wirklich nur um eine Hypothese, ich habe keinerlei Beweise, nur Vermutungen, wahrscheinlich handelt es sich hier um eine sehr frühe Form von Hysterie, eine Art frühkindliche Hysterie, die sich ganz anders zeigt als die normale Hysterie bei erwachsenen Frauen. Und da mir so ein Fall noch nie begegnet ist, wissen wir so gut wie nichts über die Symptome und die Ursachen und noch weniger über die mögliche Heilung.«
    Graf de la Tour fixierte den Arzt, dann seine Tochter,
die verträumt mit den Schachfiguren spielte, dann wieder den Arzt, der ihn mit einem so bemitleidenden Blick anschaute, dass er sich geradezu provoziert fühlte.
    »Und was soll ich nun damit!«, schrie der Graf heftiger, als ihm lieb war.
    Der Arzt schwieg eine Weile, erhob sich von seinem Schreibtisch und marschierte durch den Raum zum Fenster hinüber, dann wieder zurück.
    »Ich rate Ihnen, bringen Sie Ihre Tochter nach Marseille zu meinem Kollegen, dem Arzt und Hysteriespezialisten Ruffin, der wird Ihnen helfen können, der weiß, wie man Hysterie und vielleicht sogar wie man frühkindliche Hysterie behandelt. Geben Sie Ihre Tochter für zwei, drei Wochen in die Behandlung von Doktor Ruffin, das kann ihr nur guttun, schaden wird es ihr bestimmt nicht. Und im besten Fall kann sie sogar geheilt werden. Glauben Sie mir!«
    »Und was wird mich das kosten?«, rief der Graf aus.
    »Das Schachspiel schenke ich Ihnen. Geben Sie es Ihrer Tochter mit, es wird ihr die langen Stunden der Behandlung bei Doktor Ruffin verkürzen.«
    Graf de la Tour dankte, zahlte, nahm seine Tochter und das Schachspiel und ließ die Kutsche einspannen.
    Statt nach Marseille fuhr Graf de la Tour nach Toulon, zu einem Arzt namens Gattomo, einem Italiener, den er vom Hörensagen kannte, ein Mediziner und Chirurg, der auch vor den schwersten Fällen nicht zurückschreckte und sich mit seinen spektakulären Eingriffen, aber auch mit seinen Preisen bis nach Lyon, ja sogar bis nach Paris einen Ruf erworben hatte.
    Gattomo nahm, bevor er Ana auf irgendeine andere
Weise untersuchte, als Erstes einen Aderlass vor. Dazu wollte er ein Becken unter ihren Arm legen, aber Ana ließ sich nicht anfassen. Schließlich band Gattomo den Arm des Kindes

Weitere Kostenlose Bücher