Das taube Herz
Tour von Schloss La Tour richtete sich in dem testamentarisch vorbereiteten Brief posthum mit Dank und Bitte um Vergebung an die Obrigkeit des Hospice. Das verstörte Kind Ana, hieß es in dem Brief, sei seine Tochter. Ihre Mutter sei bereits vor ein paar Jahren gestorben. Ana, und damit dem fürsorgenden Institut, stehe die mitgelieferte Rente für den nötigen Unterhalt bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr zu. Der Graf schloss den Brief mit erneuter Bitte um Vergebung und der Bereitschaft, die nötige Buße zu tun. Gott möge es richten.
So konnte nun nicht nur ein Teil der Unkosten gedeckt, sondern Ana auch das Geburtsjahr, ihr vollständiger Name, ihre Herkunft und die Familie wiedergegeben werden, auch wenn das Adelsgeschlecht De la Tour mit ihrem inzwischen verstorbenen Vater eben gerade untergegangen war.
Seit einiger Zeit hatte die, wie man nun wusste, einundzwanzigjährige Ana de la Tour begonnen, wenn sie sich in Sicherheit fühlte, auf Situationen und Gespräche von anderen zu reagieren. Sie sagte eigenständige Sätze,
machte Bemerkungen und konnte sogar auf einfache Fragen Antworten geben. Noch immer sprach sie etwas verschroben, artikulierte schlecht und konstruierte die Sätze grammatikalisch kurios, aber sie konnte sich, wenn es die Umstände erlaubten, korrekt ausdrücken.
Der Teufel spricht! Schrien die Mägde, als sie die ersten Sätze hörten, überzeugt davon, dass der Fluch von Ana sich nun durch die Sprache auf sie übertrage. Das Gerücht des Fluchs entwickelte sich bei einer Mehrzahl der Betreuerinnen zu einer felsenfesten Überzeugung, als eine gründliche Reinigung des Schlafsaals, verordnet durch einen neuen, jungen, unerfahrenen Arzt mit blindem, fast tollwütigem Tatendrang, eine Zeichnung zutage förderte. Unter dem Laubsack, auf dem Ana all die Jahre geschlafen hatte, entdeckten die Putzfrauen eine in den Stampflehmboden geritztes Quadrat, das in viele kleine Quadrate unterteilt war. Abwechselnd waren die Felder ausgekratzt oder blank gelassen, gerade so wie auf einem Schachbrett. Über die kleinen Quadrate waren Kieselsteine verteilt, dunkle und helle, je sechzehn an der Zahl. Von Furcht und Panik ergriffen, nahmen die Putzmägde die Steinchen an sich und versuchten, die Zeichnung wegzuschrubben, was Ana so in Rage versetzte, dass der junge Arzt um Hilfe gerufen werden musste. Zwei Männer hielten sie fest, damit der Arzt ihr eine enge Jacke ohne Ärmel überziehen und einen in Weingeist getränkten Schwamm in den Mund drücken konnte. Dabei redete er unablässig mit beschwichtigenden Worten auf sie ein. Als die Putzmägde ihm die Zeichnung am Boden zeigten und die Steinchen erwähnten, ließ der Arzt ein Schachbrett holen und setzte Ana damit an einen Tisch. Es dauerte mehrere Stunden, bis Ana aus der
Zwangsjacke befreit werden konnte, ohne dass sie sich in neue Wutanfälle steigerte, und es dauerte noch einmal einen ganzen Tag, bis Ana die unordentlich auf dem Brett liegenden Schachfiguren vorsichtig anfasste. Der Arzt verfolgte ihr Vorgehen aufs Genaueste. Ana nahm eine Figur nach der anderen und stellte sie in Reihen, dann in Quadraten, Sechsecken, Treppen und anderen geometrischen Formen auf. Sie stellte Figuren um und bildete nach und nach verschiedene Formen. Nachdem Ana Vertrauen in die neue Situation gewonnen hatte, stellte sie die Figuren immer rascher um, als folgte sie einer inneren Logik, einem nur ihr bekannten Programm mit Regeln und Zielen, die dem Arzt verschlossen blieben. Vorsichtig versuchte er, in das Spiel einzugreifen. Er nahm den Turm oder einen Bauern und schob ihn einige Felder weiter. Ana reagierte sofort und bildete mit der neuen Konstellation eine andere geometrische Form. Stiftete der Arzt Unordnung auf dem Brett, antwortete Ana sofort mit einer neuen Ordnung. Änderte der Arzt die Konstellation, antwortete sie mit einer Weiterführung derselben Form. Dabei blieb Ana ruhig und konzentriert. Der Eingriff in ihr Spiel störte sie in keiner Weise, im Gegenteil, sie antwortete auf jeden Eingriff mit prompter Geste, zielsicher und entschlossen. Der Arzt war von seiner Entdeckung so fasziniert, dass er Ana in ein kleineres Zimmer versetzen ließ und ihr einen Tisch mit Stuhl und ein Schachspiel in die Schlafecke stellte. Täglich verbrachte er nun eine halbe bis eine ganze Stunde bei Ana und spielte mit ihr, versuchte die Logik ihrer Handlungen zu verstehen, glaubte, in dem Spiel eine versteckte, ihm noch unbekannte Bedeutung zu entdecken, die er nur zu
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