Das Testament des Gunfighters
für die Zimmer. Weißt du nicht, wo die aufbewahrt werden?«
»Doch, das weiß ich.«
»Bitte, hole ihn und lass mich frei!«
Der Junge zögerte. Marjorie hatte ein Ohr gegen die Tür gepresst. Sie atmete schwer.
»Bist du noch da?«
»Man wird mich rausschmeißen, wenn ich den Nachschlüssel stehle«, moserte Timmy.
»Du stiehlst ihn ja nicht. Du borgst ihn dir nur aus, für ein paar Minuten.«
»Sie sind gut. Erzählen Sie das mal dem Chefportier. Wenn er mich erwischt, wird er glauben, ich wolle die Gäste bestehlen, wenn sie außer Haus sind.«
Allmählich verrauchte Marjories Hoffnung. Ihr wurde bewusst, wie egoistisch sie sich gerade verhielt. Um ihren Willen zu bekommen, nahm sie es billigend in Kauf, dass der Junge seine Arbeit verlor.
»Schon gut, Timmy«, sagte sie schicksalsergeben. »Dann muss ich eben warten.«
Sekundenlang sagte niemand etwas.
»Ma’am?«
»Ja?« Sie horchte auf.
»Sind Sie sicher, dass Sie unbedingt aus dem Zimmer hinaus wollen?«
Sie nickte eifrig. »Was für eine Frage? Klar bin ich sicher. Ich will diesem Mann nicht wiederbegegnen, der das Zimmer gemietet hat. Ich habe Angst vor ihm.«
»Sie haben Angst vor Mr. Lassiter?«
»Große Angst«, bekannte sie.
»Warum? Was hat er Ihnen getan?«
Eine gute Frage. Marjorie dachte fieberhaft nach. Im Grunde hatte er ihr gar nichts getan. Auch die Frau nicht, die bei ihm war. Trotzdem hatte sie Angst vor beiden. Wenn sie sich bloß daran erinnern könnte, was die Zwei ihr angetan hatten …
Sie schluchzte laut.
Der Junge sagte: »Es gibt noch eine andere Möglichkeit, aus dem Zimmer zu kommen. Aber es ist nicht ganz ungefährlich. Sie müssen höllisch aufpassen, wenn Sie sich für diese Variante entscheiden.«
»Was meinst du?«
»Gehen Sie zum Fenster und schieben Sie es auf. Draußen an der Fassade ist ein breiter Sims. Klettern Sie hinaus und gehen Sie vorsichtig nach links, bis Sie zum nächsten Fenster kommen. Das Nachbarzimmer ist im Moment nicht belegt. Ich erwarte sie dort. Sie steigen in das Zimmer und können dann durch die Hintertür verschwinden, ohne dass Sie jemand sieht. Trauen Sie sich das zu, Ma’am?«
»Ja, ja! Das tue ich!« Marjorie stemmte sich in die Höhe. »Ich bin gleich bei dir, Timmy!«
Aufgeregt flitzte sie zum Fenster und riss den Vorhang zur Seite. Sie staunte über sich selbst. Auf geheimnisvolle Weise waren all ihre Beschwerden verschwunden. Auch das Schwindelgefühl hatte sich in Luft aufgelöst.
Sie blickte auf die Straße hinunter.
Unten rollten gerade zwei vierspännige Kutschen aneinander vorbei. Eine Gruppe Berittener kam aus einer Nebenstraße und wandte sich in Richtung Amüsierviertel.
Marjorie überwand ihre Bedenken und stieg auf das Fensterbrett. Auf dem Bauch rutschte sie über die Barriere, bis sie den Sims an den nackten Sohlen spürte. Für einen Moment verkrampfte sie. Die Vorstellung, den Halt zu verlieren und auf die Straße zu stürzen, schnürte ihr den Hals zu.
Rasch überwand sie ihre Höhenangst. Fuß um Fuß bewegte sie sich auf dem schmalen Vorsprung voran. Ohne Probleme tastete sie sich an der Fassade entlang. Binnen kürzester Zeit hatte sie das Fenster erreicht.
Der Ausbruch war wie am Schnürchen verlaufen. Sie hätte am liebsten laut aufgejubelt, als sie den Hotelangestellten am offenen Fenster erblickte
»Timmy«, keuchte sie.
Er war ein ungefähr achtzehn, ein nett anzuschauender Bursche mit braungebranntem Gesicht und einem dunklen Haarschopf. Er trug ein Käppi mit Schirm, auf dem mit silbrigem Garn der Name des Hotels eingestickt war.
»Gut gemacht, Ma’am.« Er half ihr ins Zimmer. »Das Schlimmste haben Sie hinter sich. Den Rest übernehme ich. Es ist nur ein Klacks. Bleiben Sie immer dicht hinter mir.«
»O ja, das werde ich.«
Timmy huschte zur Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und lugte auf den Korridor. Als alles still blieb, schob er die Tür weiter auf und gab Marjorie einen Wink, ihm zu folgen.
Sie klebte geradezu an seinen Fersen, als sie über den Flur huschten und durch eine unscheinbare Verbindungstür zu einer Wendeltreppe gelangten.
Sekunden später standen sie draußen auf dem Platz hinter dem Hotel.
»Geschafft!« Timmy blähte stolz seinen Brustkorb.
Marjorie drückte ihrem vermeintlichen Retter anerkennend die Hand. Sie war frei, und niemand würde sie daran hindern, dass sie ging, wohin sie wollte.
»Wo wohnen Sie, Ma’am?«, fragte der Boy.
Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber ihr Kopf war wie
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