Das Testament des Satans
haben, ausgelassen herumwirbelnd und eng aneinandergeschmiegt, dein Körper ganz nah an meinem, deine Hand in meiner, dein Blick in meinem. Oder wie viele Becher Calvados ich noch in mich hineingeschüttet habe, um den Schmerz der Leidenschaft zu bekämpfen, der mir den Atem raubte.
Ich wusste, dass du es auch gespürt hast. Dass du dasselbe empfunden hast wie ich. Dass Glückseligkeit unerträglich schmerzt.
Wärst du doch schon in jener Nacht zu mir gekommen, Rozenn, als Pierric diese sehnsuchtsvollen, traurigen Lieder auf dem Biniou Kozh spielte! Hättest du mich doch früher aus meiner Verwirrung erlöst! Wie viel Leid wäre uns allen erspart geblieben, wenn du nicht am nächsten Morgen meinen Bruder geheiratet hättest, wenn ich nicht eure Hände vor dem Altar ineinandergelegt hätte, wenn ich nicht auf dich verzichtet hätte, um dich ihm zu überlassen, der so viel mehr Recht auf dich hatte als ich und so viel weniger Liebe für dich als ich. Wie viel Unglück, wie viel Schuld, wie viel Sühne hat es mir gebracht!
Ich habe dich so sehr geliebt, Rozenn. So sehr, dass es mich beinahe um den Verstand gebracht hat, als Pierric mir zum Saint Michael’s Mount schrieb, dass du ins Meer hinausgeschwommen bist und dass du nie mehr zurückgekommen bist. Ich habe aufs Meer hinausgesehen, das auch immer meine Zuflucht war, und habe geweint.
Du bist fort, Rozenn, und ich bin wieder allein. Nicht einmal unsere Tochter Katarin ist mir geblieben …
Ich höre, wie die Fratres leise die Krypta verlassen.
Corentin kommt zu mir herüber und schließt mich herzlich in die Arme. »Yann, mein lieber Junge«, flüstert er an meiner Schulter, »ich bin ja so froh, dass du dich besonnen hast.«
Ich will etwas sagen, doch er hebt die Hand. »Lass uns später reden, Yann. Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«
Alessandra
Kapitel 49
In der Hummerreuse vor der Saint-Aubert-Kapelle
Kurz nach drei Uhr morgens
Mit der Faszination des Grauens beobachte ich den Mascaret, eine gewaltige Flutwelle, die auf mich zudonnert und schon den ganzen Horizont ausfüllt. Immer näher, immer höher. Ein Schwindel der Panik erfasst mich, in dem ich zu versinken drohe. Nicht das, nicht das!
Es ist Vollmond. Und Springflut. Das Wasser steigt unablässig weiter, das kann ich an den bemoosten Felsen erkennen, auf denen die Kapelle errichtet wurde.
Mein Blick richtet sich nach vorn auf die Welle, die mit atemberaubender Geschwindigkeit näher kommt.
Die Wassermassen der Flut rauschen vom Atlantik durch den Ärmelkanal, stoßen gegen die normannische Küste, prallen zurück und lassen die nachströmenden Fluten zu einem gewaltigen Tidenhub ansteigen. Der Mascaret ist eine wirbelnde Gezeitenwelle, die dem höchsten Stand der Springflut vorausgeht, wenn enorme Wassermassen heranströmen. Gestern habe ich die sichelförmige Wellenformation, die sich mit der Schnelligkeit eines galoppierenden Pferdes durch die Bucht pflügt, vom Kreuzgang aus beobachtet. Ein eindrucksvolles Naturereignis. Und so eine Gezeitenwelle, nur höher und aufgewühlter, rauscht mit erschreckender Geschwindigkeit auf mich zu. Das Wasser hat eine ungeheure Kraft – gestern hat es zwei Seehunde, die weit draußen auf den Sandbänken herumtollten, mit sich in die Bucht gespült. Wenn die Woge mit der Wucht eines Brechers über mich hinwegbrandet, wird das Wasser nicht mehr zurückweichen. Der Käfig wird durch den Aufprall der Wasserwirbel umkippen. Und ich ertrinken.
O Gott, hilf mir doch! Was soll ich tun?
Aufgepeitscht vom Sturm rast die Woge auf mich zu.
Yannic
Kapitel 50
In der Krypta Notre-Dame-des-Trente-Cierges
Viertel nach drei Uhr morgens
»Yann, mein Junge, ich habe dir etwas anzuvertrauen, das dem Beichtgeheimnis unterliegt«, fügt Corentin in kryptischem Tonfall an.
Ich nicke langsam. »Wir reden später.«
Corentin sieht mir nachdenklich in die Augen, dann wendet er sich ab und folgt den anderen aus der Krypta.
Ich bleibe allein zurück. Sobald meine Konfratres den Cachot du Diable verlassen haben, verlasse auch ich die Kapelle. Tyson folgt mir zum Scriptorium. Auf der Treppe bleibe ich erschrocken stehen und weiche lautlos zurück.
Raymond, der sich während der Vigil entfernt hat, beugt sich über ein Lesepult und blättert in einem dicken Kodex. Siedend heiß überkommt mich der Schreck. Ist es das Liber Secretorum Diaboli, dessen Bilderrätsel Alessandra zum Testament des Satans führen kann?
Nein, der Foliant vor Raymond hat einen purpurroten
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