Das Testament des Satans
Vertrauen.
Nur Trauer. Und Finsternis.
Mein ganzes Leben ist in einer einzigen Nacht über mir zusammengebrochen, und ich schaffe es nicht, mich unter den Trümmern herauszuwühlen, um mich zu retten.
Nein, der Mont-Saint-Michel ist nicht mein Berg der Verklärung. Er ist ein Schlachtfeld. Ein Kampf zwischen Himmel und Hölle, zwischen Gott und Satan.
Ein Ringen zwischen Herz und Verstand. Zwischen Schuld und Sühne. Zwischen einem heiligmäßigen Leben als Mönch und der erbarmungslosen Opferung eines geliebten Menschen und aller Empfindungen von Leidenschaft und Liebe.
Die Lesung aus der Offenbarung des Johannes:
»Und es entstand ein Kampf im Himmel. Der Erzengel Michael und seine Engel kämpften mit Satan, dem Verführer der Welt, der mit seinen Engeln auf die Erde geworfen wurde. Und sie haben ihn besiegt.«
Wo ist der Arc’hael Mikael? Ist er am Ende doch dem Satan unterlegen?
Der getragene Gesang des Te Deum, während die großen Glocken der Abteikirche läuten.
Und wo ist Gott?
Die Responsorien und Psalmodien rauschen wie ein Sturm an mir vorbei, in dem mir Lucien zum Führer wird. Irgendwann nimmt er mir einfach die Heilige Schrift aus der Hand, legt mir die Hand auf die Schulter und schiebt das Buch zurück auf den Altar. Dann kehrt er an seinen Platz zurück.
Während der Hymnen huscht Tyson in die Krypta und verkrümelt sich an seinen Platz vor dem gusseisernen Kerzenständer unterhalb der Statue der Maria mit Kind, der ›Mutter der Gnade‹, neben der Altarapsis. Er streckt sich und schließt die Augen.
Am Ende das Gebet.
Ich spüre Corentins Blicke.
Was soll ich ihnen sagen? Was kann ich ihnen mit auf den Weg geben?
Ich bin leer.
Aber nicht für Gott.
Eine ungestillte Sehnsucht erfüllt mich. Jemand anderes nimmt seinen Platz wieder ein.
Rozenn.
Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, als ich mich erinnere, wie ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Während die anderen mit gesenktem Kopf darauf warten, dass ich den Segen spreche, denke ich an sie …
… O Rozenn, hier stehe ich nun wie am Bug meines Bootes, das auf den Wellen hin und her geworfen wird, und segele auf das Ende meines Lebens zu, das Ende meiner Sehnsucht nach Zärtlichkeit und Liebe – denn diese große Liebe, diese wilde Leidenschaft, die uns zusammengebracht hat, kann ich nach all den Jahren noch immer spüren. Du fehlst mir so.
Ich weiß noch, wie es war, als ich dich zum ersten Mal sah. Es war am Tag vor Pierrics Hochzeit. Vor dem Haus meines Vaters neben dem Leuchtturm hatten sich die Ouessantiner versammelt und aßen und tranken und tanzten ausgelassen. Ich kam allein vom Hafen herüber. Ein Fischerboot hatte mich zu unserer Insel am Ende der Welt gebracht. Pierric stürmte auf mich zu und riss mich in seine Arme. »Yannic, großer kleiner Bruder, bin ich froh, dass du uns trauen willst! Ma Doue, wie lange ist es her, dass du das letzte Mal zu Hause warst? Mama wird sich freuen! Und unser alter Herr erst! Yannic, mein Kleiner, ist das schön, dich zu sehen.« Lachend wirbelte er mich herum und drückte mir einen Becher in die Hand. »Trink, Yann! Na los, zier dich nicht!«
Nachdem ich den schwarzen Habit abgelegt und meine alten, selbst geschnitzten Holzschuhe, die immer noch unter meinem Bett standen, wieder angezogen hatte, stürzten wir uns ins Vergnügen. Meine Familie und meine Freunde nach all den Jahren wiederzusehen war schön. Meine Mutter. Meinen Vater, der von seinem Leuchtturm heruntergestiegen war, um seinen ›verlorenen Sohn‹ in die Arme zu schließen. Ronan, mit dem ich mich als Kind geprügelt habe, Gwennic, Alan, und all die anderen, die ich auf Enez Eusa zurückgelassen habe. Kräftiges Schulterklopfen, fröhliches Gelächter, freundschaftliche Rangeleien, gemeinsame Erinnerungen und noch mehr Calvados. In kürzester Zeit war ich abgefüllt.
Irgendwann zog Pierric mich hinter sich her und schleppte mich zu dir. »Yannic, mein Kleiner, darf ich dir meine Braut vorstellen? – Rozenn, das ist mein großer kleiner Bruder. Er war Mönch und Priester auf dem Mont-Saint-Michel. König Henry hat ihn zum Prior des Saint Michael’s Mount ernannt. Wir alle sind mächtig stolz auf ihn. Yannic wird uns morgen trauen. Ich meine, falls er bis dahin wieder nüchtern ist …«
Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns angesehen haben, ohne dass Pierric verstand, was in jenem Augenblick zwischen uns geschah. Oder wie oft wir an jenem Abend miteinander zu den Klängen von Pierrics Dudelsack getanzt
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