Das Testament des Satans
innerer Kälte bebe.
»Yann?«, fragt Corentin sanft.
Mir fehlen die Worte, um meine Gefühle auszudrücken. Ein Sturm tobt in mir, der jeden vernünftigen Gedanken mit sich fortreißt.
»Yann, mein lieber Junge!« Er streicht mir über den Arm, was mir beinahe körperliche Schmerzen zufügt. »Alles in Ordnung?«
Ich schüttele den Kopf. Aufgewühlt. Erschüttert. Traurig.
Ich habe Corentin die Absolution verweigert.
Keine Vergebung, keine Barmherzigkeit, keine Gnade.
Nur Wut. Und Trauer.
Corentin hat Conan ermordet und den Leichnam geschändet.
Ich fühle mich, als sei ich gerade aus einem Albtraum aufgeschreckt, um erschrocken festzustellen, dass ich gar nicht geträumt habe.
»Der Erzengel hat dich erwählt, Yann. Du bist sein«, redet er mit sanften und tröstenden Worten auf mich ein. »Du bist nun der Hüter der Lade, der an der Seite von Arc’hael Mikael die Mächte des Bösen bekämpft. Und du bist das neue Oberhaupt der geheimen Bruderschaft.«
»Habt Ihr mich deshalb zum Subprior gemacht?«, frage ich mit heiserer Stimme.
Er nickt. »Yvain und du, ihr werdet eng zusammenarbeiten. In der Abtei wie in der Bruderschaft. Wenn die Fratres dich in einigen Wochen zum Prior wählen, habe ich mein Ziel erreicht: Ich kann in Ruhe sterben. Ich weiß, ich habe einen würdigen Nachfolger.«
»Ich soll töten? Dieses schreckliche Mysterienspiel weiterführen? Böses tun um des Guten willen?« Die Worte kommen mir nur schwer über die Lippen, sie haben einen bitteren Nachgeschmack. »Wie Ihr, Corentin?«
»Du wirst es verstehen, Yann. Das Geheimnis muss bewahrt bleiben.«
»Welches Geheimnis?«
»Das Testament des Satans. Komm, ich zeig’s dir.« Er führt mich über das Geröll in den hinteren Teil der Krypta, wo am Fuß der Halde zwei Altäre stehen, die vom Schutt befreit worden sind. »Notre-Dame-sous-Terre ist an der Stelle errichtet worden, wo Aubert das erste Sanktuarium für Sant Mikael errichtet hat und wo zuvor ein keltisches Heiligtum war. Sieh mal da drüben, Yann, hinter dem rechten Altar, in der Apsis! Die Wand aus grob behauenen Granitblöcken gehörte einst zu Auberts Oratorium. Ich habe sie vor einigen Jahren zufällig entdeckt und ausgegraben.«
Ich sehe mich in der Kapelle um, die von zwei wuchtigen Arkadenbögen in zwei Schiffe getrennt wird. Zwei Apsiden, zwei Altäre. Wie bei den heidnischen Kelten, die auf solchen Altären Blutopfer darbrachten. Notre-Dame-sous-Terre ist eine steingewordene Erinnerung an die keltische Vergangenheit des Mont-Saint-Michel. Eine Ehrung der Ahnen.
Ich bin Kelte.
»Und wo ist die Felsengrotte, in der die legendären neun Druidinnen die Blutopfer für Ogmios darbrachten, den Gott der Toten und des Krieges?«
»Unter uns.« Corentin zieht mich in die Nische. »Hilf mir, Yann. Wir müssen den Altar verschieben.«
Gemeinsam wuchten wir die Deckplatte des Altars, der wie ein archaischer Dolmentisch geformt ist, zur Seite. Darunter kommt ein Schacht zum Vorschein, der durch den festen Granit steil nach unten führt. Er ist so eng, dass ich auf allen vieren rutschen müsste.
Corentin beugt sich vor, schiebt die Hand mit der Kerze bis zur Schulter in den Schacht und leuchtet mir. »Siehst du, Yann? Das Heiligtum unserer Ahnen. Der Tempel für Ogmios, den Führer der Seelen – wie später Sant Mikael. Die Grotte dort unten diente dem Totenkult. Ein heiliger Ort der weisen Druidinnen, die gleichzeitig Priesterinnen, Prophetinnen und Heilerinnen waren.« Corentin deutet auf einige große Steinquader, die den Einstieg umgeben. »Dieser Schacht war zugemauert, bis Vittorino da Verona unter dem christlichen Altar das Versteck der Lade entdeckte. Der einstige Eingang des Tempels an der Bergflanke, wo sich heute unser Klostergarten befindet, ist auch zugemauert. Hinter den Megalithen könnte sich noch ein altes keltisches Fürstengrab befinden. Darauf lässt der alte Name für den Mont-Saint-Michel schließen: Mont-Tombe, ›der Berg des Grabes‹.«
Wenn ich den Kopf schräg halte, erkenne ich am Ende des Schachts den unebenen Felsboden der Tempelgrotte und einen Megalithen, der vermutlich ein Blutopferaltar für Ogmios war. Der Mont ist das Tor in eine andere Welt, er ist der Berührungspunkt von Himmel, Erde und Hölle, wo Keltentum und Christentum eins sind und wo die Legenden zur Wirklichkeit werden. Ich kann die Heiligkeit des Ortes geradezu körperlich spüren. Ein mystischer Schauer läuft mir über den Rücken.
»Du fühlst es, nicht wahr?«,
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