Das Testament des Satans
während er sich langsam bekreuzigt. »Monseigneur Saint-Michel, steh uns bei!«
Wir gehen los, blicken nervös nach links und rechts und bewegen uns immer tiefer hinein in die Kapelle. Lucien drängt sich dicht hinter mich.
Dann entdecken wir den Toten.
Seine Kukulle ist zerrissen. In seiner Brust klaffen tiefe blutige Wunden, durch die die Knochen des Brustkorbs hindurchschimmern. Aus einem Schnitt quer über den Bauch quellen die Eingeweide. Sie sind zu einem großen Hexagramm ausgebreitet. Der Schädel ist eingeschlagen. Ein großes Loch klafft oberhalb der Schläfe, durch das das Gehirn zu sehen ist. Im Geröll kann ich kein Sigillum und kein Anagramm entdecken, nur einen Kreis um den Leichnam herum, der mit einem spitzen Gegenstand gezogen wurde. Einem Schwert?
»Mon Dieu!«, flüstert Lucien und schlägt die Hand vor die bebenden Lippen. Sein Gesicht ist schweißüberströmt.
Ich spüre eine merkwürdige Ruhe in mir, während ich die Inszenierung betrachte, ein sprachloses Staunen angesichts des Grauens. Es fällt mir schwer, den Blick abzuwenden.
Lucien würgt einen dumpfen Laut des Entsetzens hervor.
»Verschwinde. Läute die Glocken, um die anderen zu holen.«
»Mhm.« Fluchtartig verlässt Lucien die Krypta.
Gerade noch rechtzeitig: Von draußen höre ich ein röchelndes Geräusch, als er sich übergibt. Sobald er sich beruhigt hat, ruft er mit brüchiger Stimme: »Wir haben ihn gefunden! Hier drüben!«
Ich gehe zu Abelard hinüber, der blicklos zum Gewölbe hinaufstarrt. Er sieht aus, als wäre er in einer Schlacht gefallen. Die Wunden in seiner Brust sind von einem scharfen Schwert gerissen worden. Ich sehe mich um. Es ist nirgendwo zu sehen.
Ich knie neben Abelard nieder und schließe ihm die Lider. Während ich ihm die Sterbesakramente spende, höre ich über mir das Dröhnen der Glocke, das die anderen ruft.
Loïc und Brioc betreten die Krypta und kommen mit entsetztem Gesicht zu mir herüber. Die anderen Fratres folgen ihnen nach und nach, bilden Schulter an Schulter einen engen Kreis um den Toten, bekreuzigen sich und beten. »Misereatur nostri omnipotens Deus.«
Yvain drängt sich durch die dichte Reihe und tritt neben mich. Er ist noch blasser als vorhin. »Dieu du Ciel!«
Ich richte mich auf. »Das fünfte Siegel.«
»Das fünfte? «, haucht Yvain entsetzt und betrachtet seinen toten Freund. Er wusste nichts von dem Mord an Abelard, das sehe ich ihm an. Er ist zu Tode erschrocken.
In kurzen Worten berichte ich, wo Padric und ich das zweite Siegel gefunden haben. Und dass das Öffnen des vierten Siegels vermutlich in einem Giftmord endet. »›Und als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die geschlachtet worden waren um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen, das sie hatten.‹« Ich deute auf Abelards Leichnam, der nicht weit vom Altar der Krypta entfernt liegt. »›Und sie riefen mit lauter Stimme und sprachen: Bis wann, heiliger und wahrhaftiger Herrscher, richtest und rächst du unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen? Und es wurde ihnen einem jeden ein weißes Gewand gegeben.‹« Ich hebe den Saum meines weißen liturgischen Gewandes, das ich wie alle anderen für die Laudes angelegt habe. »›Und es wurde ihnen gesagt, dass sie noch eine kurze Zeit abwarten sollten, bis auch ihre Brüder vollendet seien, die ebenso wie sie getötet werden sollen.‹«
Yvain sieht mich an, als habe er mich nicht verstanden. Er steht unter Schock. »Das fünfte Siegel«, murmelt er. »O mein Gott! Noch zwei Siegel …«
»Drei.«
Verwirrt blickt er auf. »Drei?«
»Das vierte Siegel ist noch nicht zerbrochen.« Ich deute in die Runde unserer Konfratres. »Einundzwanzig Mönche. Es fehlt niemand.«
Alle fangen an durchzuzählen.
»Das Öffnen des fünften Siegels bedeutet jedoch, dass das vierte schon geöffnet ist. Das tödliche Gift tut seine Wirkung.«
Padric bekreuzigt sich mit aufgerissenen Augen. Schon wieder ist er dem Höllenfürsten auf der Spur. Jeden Augenblick kann er eine seiner Visionen haben. Jourdain legt ihm die Hand auf die Schulter und flüstert ihm etwas ins Ohr. Padric nickt. Was haben die beiden vorhin im Scriptorium getan?
»Wir müssen die Progression des Todes aufhalten!«
Yvain nickt schwach. »Wie?«
»Frère Loïc, Frère Brioc, Ihr bringt Frère Abelard in die Totenkapelle. Alle anderen verlassen sofort die Krypta.«
Ein Raunen erhebt sich, als die Fratres mit gesenkten Köpfen über das
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