Das Testament des Satans
versiegelten Lade? Nein, das ist vermutlich nur eine von vielen düsteren Legenden, die sich um den Mont-Saint-Michel ranken. Ja, es ist wahr, dass Satan hier nachts erscheint. Doch Ihr braucht keine Angst zu haben, Euer Gnaden, der Erzengel wacht über sein Heiligtum.«
Entweder hat Yvain de Bayeux diese geheime Chronik nie gelesen, oder er hat mir ins Gesicht gelogen. Die Briefe des Priors, der 1421 an Papst Martin geschrieben hat, in den Ruinen der Krypta unter dem eingestürzten Chor sei neben einem Skelett eine bleiverkleidete Truhe entdeckt worden, die offenbar eingemauert gewesen ist, kann er nicht kennen, denn ich habe sie im Geheimarchiv des Vatikans entdeckt. Ebenso den Bericht, dass ein Gesandter des Papstes, der die Satansreliquie im Jahr darauf nach Rom bringen sollte, spurlos verschwunden ist. Vermutlich ist das einer der Mordfälle, über die ich vorhin im Archiv Aufzeichnungen gefunden habe. Falls es überhaupt Nachforschungen des Vatikans gegeben hat, sind sie nicht im Geheimarchiv dokumentiert. Mein Cousin, Papst Martin, war zu sehr mit der Beendigung des jahrzehntelangen Schismas und der Einigung der gespaltenen Kirche beschäftigt. Meinen Vater, den Inquisitor, hätte das Vermächtnis Satans sicher brennend interessiert.
Also: Hat der Prior gelogen? Oder hat er wirklich noch nie vom Testament des Satans gehört? Oder von den geheimnisvollen Todesfällen von 1421 und 1422, von denen der damalige Prior, Jean Gonault, an Papst Martin berichtet hat? Denn hier auf diesem Palimpsest, auf dieser mutwillig zerstörten und mit einem bösartigen Fluch belegten Pergamentseite, ist von einem Liber Secretorum Diaboli die Rede. Ist dieses Buch der Geheimnisse des Satans auch das legendäre Testament des Satans?
Und wo ist eigentlich die Tod und Verderben bringende Truhe aus der eingestürzten Krypta der dicken Pfeiler geblieben, die Kardinal d’Estouteville so treffend als satanisches Gegenstück zum Gottesschrein bezeichnete, zur Bundeslade, die Yared und ich vor vier Jahren im Labyrinth des Tempelbergs von Jerusalem gesucht haben?
Ich atme tief durch.
Tyson räkelt sich zufrieden auf meinem Schoß, die Augen geschlossen, die Beine abgespreizt. Ich streichele ihm über den Bauch.
Wo ist dieses Buch der Geheimnisse des Satans?
Plötzlich kommt mir die zerborstene Bodenplatte in den Sinn. Ist sie vielleicht die Deckplatte einer geheimen Nische unter dem Boden des Archivs?
Ich packe Tyson, der die Augen aufreißt und protestierend maunzt, als ich ihn auf die Bank neben mir setze. Dann springe ich auf und haste zum Archiv hinüber.
Der Gedanke, dass ich zu spät komme, lässt mich nicht mehr los, während ich vor der eingefügten Granitplatte niederknie, über die ich vorhin gestolpert bin.
Drei Schritte entfernt liegt die geborstene Platte, die offenbar vorher die Vertiefung abgedeckt hat. Die beiden Teile der Steinfliese sind durch eine eiserne Klammer miteinander verbunden. Derartige Krampen werden verwendet, um geborstene Steine im Mauerwerk zusammenzuhalten und einsturzgefährdete Gewölbe abzustützen. Wie den Keller meines Palazzos an der Piazza del Duomo in Florenz. Seit Filippo Brunelleschi vor einigen Jahren die Domkuppel fertiggestellt hat, senkt sich der Boden unter der Kathedrale. Der Maestro hat sich den Schaden in meinem Keller angesehen und das Gewölbe unterhalb meiner Bibliothek mit derartigen Krampen absichern lassen.
Ich betrachte die zerbrochene Bodenplatte. Wie es scheint, hat jemand mit einem schweren Gegenstand darauf eingeschlagen, sodass der Granit gesprungen ist. Die wuchtigen Schläge müssen durch die ganze Merveille gehallt haben. Wer war es? Vittorino? Oder – daran mag ich gar nicht denken! – ist mir jemand zuvorgekommen?
Ich krieche zurück zur eingefügten Bodenplatte, die offenbar aus einem anderen Raum stammt, denn sie hat eine dunklere Farbe als die anderen Granitfliesen und passt sich nicht fugenlos ein. Warum die Bauarbeiter, die den Chor der Abteikirche errichteten, keine neue, passgenau gehauene Platte eingesetzt haben, kann ich mir denken: Niemand darf das Geheimarchiv betreten und das offene Versteck sehen!
Ich beuge mich über die Granitplatte. Die Kante auf der Seite zum Scriptorium weist helle Kratzer auf, als hätte Tyson daran seine Krallen geschärft. Eine Ecke ist abgesplittert, der Splitter ist jedoch nirgendwo zu sehen. Ist er beim Aufhebeln des Verstecks in die Vertiefung gefallen?
Yannics Kater sieht mir mit gesenktem Kopf neugierig zu,
Weitere Kostenlose Bücher