Das Testament des Satans
die andere Seite. Während ich mich zur Gartenmauer vorkämpfe, trete ich auf einen morschen, im Sturm abgerissenen Ast. Mit einem lauten Knacken zerbricht er.
»… nur die Blätter im Wind rauschen«, dringt ein Flüstern von unten herauf. »… nur eingebildet …«
»Nein, ganz sicher nicht«, zischt eine zweite Stimme. »Da oben im Garten ist jemand … nachsehen … Es ist …«
Mit der Schulter gegen die hüfthohe Steinbrüstung gelehnt luge ich vorsichtig hinunter. Eine Treppe führt hinab in den Hof zwischen dem Châtelet rechts von mir und der Merveille links. Dort unten stehen zwei Mönche und flüstern miteinander. Einer von ihnen ist der Prior.
Ich halte den Atem an und lausche, aber ich kann kaum etwas verstehen. Das Flüstern wird lauter, nachdrücklicher, als würde jeden Augenblick ein Streit zwischen den beiden ausbrechen.
Plötzlich herrscht eine beunruhigende Stille. Was tun sie?
Ein Zweig auf den Stufen direkt unter mir knackt. Sie kommen!
Gerade noch rechtzeitig werfe ich mich in das Gewoge der Brennnesseln, presse mich flach auf den festgestampften Boden und beobachte den Mönch, der am Gartentor stehen bleibt und in den Garten sieht. Im Licht der Blitze kann ich sein Gesicht erkennen: Es ist Frère Abelard. Ich halte den Kopf tief am Boden und atme die kühle Luft ein, die nach feuchter Erde riecht.
Père Yvain tritt neben Frère Abelard. »Und?«
»Nichts zu sehen.«
»Komm jetzt, Abelard … uns beeilen. Die Vigil … halben Stunde. Und … Leiche noch fortschaffen.«
»Sie ist gefährlich. Gott strafe sie!«, flucht Frère Abelard, wendet sich ab und folgt dem Prior zum zerfetzten Fensterpergament.
Sie wollen in den Gästesaal. Sie wollen mich töten.
Sobald sie verschwunden sind, richte ich mich auf und blicke über die Brennnesseln hinweg, die mir ins Gesicht peitschen.
Vor mir liegt der Gästesaal, darüber das Refektorium. Gegenüber die massiven Mauern der Krypta der dicken Pfeiler, darüber die Baustelle des neuen Chors. Die Strebemauern sind gerade einmal drei Ellen hoch, die Holzgerüste ragen wie die Masten eines Seglers in den Sturmhimmel.
Nein, Vittorino ist nicht in diesem Gärtchen begraben …
Ein Trampeln unten im Hof, gefolgt von einem leisen Schluchzen!
Dann kommt jemand keuchend die Treppe herauf.
Geschwind krieche ich zur Brüstung, richte mich auf und spähe hinunter …
… so wie der andere, der anscheinend die Bewegung über sich bemerkt hat, zu mir heraufblickt.
Yannic
Kapitel 24
Auf der Treppe zur Krypta Notre-Dame-sous-Terre
Zwanzig Minuten vor zwei Uhr nachts
Die lange Treppe vor mir führt hinunter in die Geschichte, in die Zeit der Merowinger und der Karolinger.
Als ich das Ende der Stufen erreiche, beißt mir Weihrauch in die Kehle. Ich gehe um die Ecke und bleibe abrupt stehen. Auf den Stufen hinauf zur Krypta Notre-Dame-sous-Terre tauchen Dutzende Kerzen die dichten Weihrauchschwaden in ein goldenes Licht. Trotz des prächtigen Glühens, das einer Kathedrale würdig wäre, scheinen die Stufen nicht in den Himmel zu führen, sondern in die Hölle. Wer hat die Kerzen angezündet?
Ich schaudere, als ich an Corentins mahnende Worte zurückdenke.
Armageddon.
Gott gegen Satan, hier auf dem Mont, wo sich der Böse heute Nacht seine Jünger sucht.
Jeder gegen jeden. Misstrauen, Furcht, Verrat und Gewalt.
Und Alessandra als Fremde unter uns, als Frau. Wir alle wissen, dass sie vor zwei Jahren von der Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden ist, weil sie Satansmessen gefeiert und einen Pakt mit dem Bösen geschlossen haben soll, um ihren Cousin, Kardinal Colonna, zum Papst zu machen.
Alessandra wird das erste Opfer sein.
Ich raffe meinen Habit und gehe langsam die Stufen hinauf. Mitten zwischen den Kerzen bleibe ich wieder stehen. Wer hat das Ewige Licht hierhergebracht? Die silberne Lampe stammt aus Notre-Dame-des-Trente-Cierges, wo in einer Viertelstunde die Vigil gehalten werden soll. Das Ewige Licht steht für die Gegenwart Gottes.
Die Stufen davor sind übersät von Andachtsbildchen des Erzengels und den Seiten eines Buches. Ich hebe ein herausgerissenes Blatt auf. Ein lateinisches Gebet. Neben dem Hymnus auf der Rückseite erkenne ich meine eigene Handschrift. Die Seite stammt aus meinem Brevier, das ich vorhin in meiner Zelle gefunden habe.
Ich schüttele den Kopf und betrachte das Durcheinander, das mich umgibt. Sollen die heiligen Texte und die Bilder Satan aufhalten?
Herr, unser Gott, steh uns allen bei!
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