Das Testament des Satans
ins Schloss fallen und gehe hinüber zur Brüstung, um auf die Stufen hinunterzusehen, die zwischen der Abteikirche und der Residenz des Abtes zum Châtelet hinabführen.
Ich muss mich weit über die Brüstung lehnen, um ihn zu sehen: Etliche Ellen unter mir hockt er im Windschatten des Mauerwerks auf den Stufen und schluchzt zum Gotterbarmen. Ich kann ihn nicht erkennen, weil er mir den Rücken zudreht. Die Kapuze hat er hochgezogen und den Kopf gegen die Mauer gelehnt. Aber ich weiß auch so, wer er ist.
Er zerreißt seinen Habit und schneidet sich mit einem Dolch in die Haut. Versucht er, seine Seele von unerträglichen Schmerzen zu befreien, von einem Höllenfeuer, das ihn innerlich verbrennt?
»Habe ich nicht geschworen, dir zu dienen?«, schluchzt er und stößt sich den Dolch in die Handfläche, als wolle er sich selbst ans Kreuz nageln. »Habe ich nicht geschworen, für dich zu sterben? Ma Doue, mein Gott, vergib mir, was ich getan habe. Erlöse mich!«
Erschüttert starre ich zu ihm hinunter.
»Ma Doue, in meiner Not flehe ich dich an: Libera me a malo! Erlöse mich von dem Bösen!«
Als ich einen Schritt zurücktrete, um die Treppe hinunterzugehen und Conan zu trösten, sehe ich einen Schatten langsam die Stufen heraufkommen.
Auch Conan scheint ihn gesehen zu haben. Panisch springt er auf und stolpert dabei fast über den Saum seiner Kukulle. »Vade retro, Satana!«, brüllt er die rituelle Formel für einen Exorzismus und hebt den Dolch anstelle seines Kreuzes. »Das Heilige Kreuz sei mein Licht. Der Drache wird mich nicht beherrschen. Weiche zurück, Satan! Verführe mich nicht – was du tust, ist böse!« Und dann ein erstickter Schrei – »Herr, erlöse mich von dem Bösen!« – und Conan wirft sich mit dem Dolch auf den anderen, der mitten auf der Treppe stehen geblieben ist.
Im fahlen Licht der Blitze erkenne ich sein Gesicht.
Conan stürmt die Stufen hinab auf ihn zu, rempelt ihn mit der Schulter an, sodass der Alte zurücktaumelt und die Treppe hinabstürzt. Mein Freund hält kurz inne, spuckt Le Coz, den er doch als Heiligen verehrt, ins Gesicht und flüchtet weiter die Treppe hinunter, bis er plötzlich verschwunden ist.
Gott im Himmel, was geht hier vor?
Alessandra
Kapitel 21
In der Totenkapelle Saint-Étienne
Gegen halb zwei Uhr nachts
Erschüttert blicke ich in den Sarkophag und halte den Atem an. Das ist nicht Vittorino.
Ich betrachte die Fetzen des schwarzen Wollstoffs. Sie gehörten einst zu einem Benediktinerhabit.
Nein, es ist nicht mein väterlicher Freund. Erleichtert atme ich auf. Es ist der ermordete Bibliothekar der Abtei. Wie hieß er noch? Geoffrey, glaub ich. Ja, genau: Geoffrey Le Roy.
Und Vittorino?
Hat sein Mörder ihn entkleidet, hat er festgestellt, dass Vittorino beschnitten war – ein getaufter Jude. Vermutlich liegt mein Freund in ungeweihtem Boden begraben.
Mit der Faust schlage ich auf den Rand des Sarkophags, so fest, dass es wehtut. So langsam gerate ich wirklich in Rage! Wenn ich den Assassino zu fassen kriege, dann gnade ihm Gott!
Also los! Ich muss das Testament des Satans finden, bevor noch mehr Morde geschehen.
Ich schiebe die Granitplatte zurück, bekreuzige mich und spreche ein kurzes Gebet für den Toten, dessen Ruhe ich gestört habe.
Mit der Kerze verlasse ich die Totenkapelle.
Wo ist Vittorino begraben?
Yannic
Kapitel 22
Auf der Abteitreppe
Gegen halb zwei Uhr nachts
Mit gerafftem Habit haste ich die Treppe hinunter, um Le Coz, der stöhnend vor Schmerz auf den Stufen liegt, aufzuhelfen. Er scheint nicht verletzt zu sein.
Ächzend lässt er sich auf einer Stufe nieder und zupft die blutige und eitrige Gaze wieder vor sein entstelltes Gesicht. Seine Ledermaske hat er beim Sturz verloren. Ich gebe sie ihm, und er dankt mir mit einem Nicken.
Den bretonischen Namen ›Le Coz – der Alte‹ hat Conan ihm gegeben. ›Der Schweigsame‹ hätte es besser getroffen. Denn weder weiß ich, wie alt er ist, noch wie lange er schon auf dem Mont ist. Seit Menschengedenken, frotzelt Padric. Beim Einsturz des Chors 1421 wurde er verschüttet, aber wie durch ein Wunder nicht verletzt. Der Arc’hael Mikael habe ihm beigestanden, während er aus den Trümmern geborgen wurde. Eine flammende Lichtgestalt sei die ganze Zeit an seiner Seite gewesen und habe ihm Mut zugesprochen und Kraft gegeben. Seither genießt er den Ruf eines Weisen, der mit dem Erzengel spricht, eines Heiligen. Conan, den die alten Kelten faszinieren, nennt ihn augenzwinkernd
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