Das Testament des Satans
Niketas denken, eigentlich jeden Tag. Ich erinnere mich dann an den Duft seines Haares und seiner Haut. Niketas roch immer ein wenig nach Weihrauch. Ich habe mein Gesicht in sein schwarzes Haar gedrückt und diesen betörenden Duft ganz tief eingeatmet. Gott, wie ich den geliebt habe!
Yannic riecht ganz ähnlich, aber auch nach Meer und Wind und Muscheln und Algen, als sei er eben erst von einem langen Segeltörn mit seinem Boot in die Abtei zurückgekehrt. O ja, Yannic erinnert mich so sehr an Niketas, dass es schmerzt. Aber ein Mönch? Nein, nie wieder! Nicht nach dem Inquisitionsprozess während des Konklaves vor zwei Jahren, wo ich zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, während mein Cousin in der Kirche des Klosters nach dem Willen der ›Colonna! Colonna!‹ skandierenden Römer zum Papst gewählt werden sollte. Perfide Inquisitoren!
Ich schnappe mir ein Seil, lege es mir über die Schulter und steige die Leiter wieder hinunter in den Hof. Dann klettere ich durch das offene Fenster in die Treppengalerie und wage einen Blick in den Gästesaal. Er ist verlassen. Yvain und Abelard suchen mich offenbar woanders.
Also hinauf ins Refektorium!
Die Tür zum Kreuzgang ist verriegelt – von innen. Mit einem Ruck schiebe ich den Riegel zur Seite und öffne die Tür einen Spaltbreit, um in das Geviert zu spähen. Niemand zu sehen. Also dann!
Ich schlüpfe hinaus und ziehe das Portal hinter mir zu. Dann wende ich mich nach links und husche durch die Arkaden in den kleinen Hof, wo Vittorino, wie Yannic gesagt hat, ermordet wurde. Vor mir das Seitenportal der Abteikirche, rechts die Treppe hinunter zum Scriptorium und die Stufen hinauf zur Tür des Dormitoriums, hinter mir der Durchgang zum Kreuzgang.
Ich empfinde nichts, obwohl ich mich auf den Mord konzentriere, wie Yannic ihn mir beschrieben hat, auf Vittorinos Schmerzen, auf seine Hoffnungslosigkeit, seine letzten Gedanken vor dem Tod. Der Tatort hat keine Ausstrahlung mehr, keine Stimmung, er löst kein Erschrecken aus, wie damals jene neu entdeckte Geheimkammer in den Gewölben des Lateran, wo man geradezu herausgefordert wurde, den Mord in der Fantasie nachzuvollziehen. Den Mörder kann ich mir nur als nebeltrüben Schemen dort oben auf dem Dach des Kreuzgangs vorstellen – so wie Yannic ihn mir beschrieben hat.
Ich versuche, mir die Szene vorzustellen: Vittorino liegt auf dem Rücken, Yannic kniet neben ihm und gibt ihm die Sterbesakramente. Und dann? Hat Vittorino ihm sein Notizbuch mit den Aufzeichnungen über das Testament des Satans in die Hand gedrückt? Hat er Yannic schwören lassen, dass er es an mich weitergibt?
Nein, ich kann nichts fühlen.
Ich drehe mich um.
Wohin kann der Assassino den Leichnam geschleppt haben? Er wird ihn nicht getragen haben, sondern gezogen.
Zurück in den Kreuzgang!
Vor der Doppelreihe der Säulen bleibe ich stehen und blicke mich um. Vor mir liegt das Heckenlabyrinth – dort kann sein Grab nicht sein. Den Irrgarten bin ich gestern nach der Sext schon mit Conan abgeschritten, während die Mönche nach dem Mittagsmahl im Kreuzgang lasen oder meditierten. Ich wende mich zur Westseite der Merveille, wo es ein großes offenes Fenster gibt, von dem aus ich in den Klostergarten tief unter mir hinunterblicken kann.
Die dreibogige Fensteröffnung, die von je zwei Säulen flankiert wird, hat im mittleren Teil keine Brüstung. Ob Vittorino hier hinuntergeworfen wurde?
Ich lehne mich über den Abgrund. Selbst wenn Vittorino noch nicht tot gewesen wäre, als Yannic ihn verließ – diesen Sturz hätte er ganz sicher nicht überlebt. Wenn ich den Assassino in die Finger kriege, dann gnade ihm Gott der Allmächtige!
Mein Blick schweift zur Gartenmauer, dann weiter zur felsigen Nordflanke, wo ein Eichenwäldchen im Sturm rauscht. Dahinter wütet das Meer.
Im gleißenden Licht der Blitze schimmern die Wellen wie flüssiges Quecksilber. Das Wasser ist inzwischen zurückgekehrt, der Mont ist für die nächsten sechs Stunden wieder eine Insel. Bei einem Sturm aus Nordwest gleicht die Bucht des Mont-Saint-Michel der Lagune von Venedig, wenn der Scirocco von Süden das Wasser vor sich her schiebt. Eine Sturmflut kann länger dauern als sechs Stunden. Zugegeben, es war eine bescheuerte Idee, Eoghan Walleys und meine bewaffnete Eskorte in der Prieuré de Genêts zurückzulassen.
Ein letzter Blick nach unten, dann trete ich den Rückzug an.
Es ist Zeit, eine Grenze zu überschreiten.
Yannic
Kapitel 26
Auf der Treppe vor der
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