Das Testament eines Excentrischen
Morgen auf den Aufruf derselben Buchstaben antworten werde. Das hatte die Massenansammlung veranlaßt, von der nur ein kleiner Theil ein Plätzchen vor der Bühne erlangen konnte, worauf der Notar und die Mitglieder des Excentric Club erschienen. Zu Tausenden drängten sich die Leute noch in den benachbarten Straßen und in den schattigen Gängen des Lake-Park.
Die Neugier erfuhr eine vollkommene Enttäuschung. Maskiert oder nicht – jedenfalls tauchte kein Individuum auf, als Meister Tornbrock, nachdem die Würfel über die Karte gerollt waren, die Zahl ihrer Augen verkündigte.
»Neun, durch sechs und drei, rief er, sechsundzwanzigstes Feld, Staat Wisconsin!«
Merkwürdig – das war dieselbe Zahl, die für Lissy Wag, und zwar ebenfalls durch sechs und drei, beim Würfeln gefallen war. Von ernstester Bedeutung für die junge Dame war aber der Umstand, daß sie nach den von dem Verstorbenen aufgestellten Vorschriften, wenn sie sich noch an dem Tage in Milwaukee befand, wo dieser X. K. Z. dort eintraf, ihm ihren Platz räumen und wieder zurückgehen mußte, was also mit einem Wiederanfangen der Partie gleichbedeutend war. Und nun nicht abreisen zu können, an Chicago gebannt zu sein!
Die Menge wollte nicht weichen; sie wartete. Niemand zeigte sich. Zuletzt mußten die Leute nachgeben und gehen. Das erregte einen so allgemeinen Unwillen, daß die Abendblätter sehr wenig schmeichelhafte Artikel über den unglückseligen X. K. Z. brachten. Nein, man führte eine ganze Bevölkerung nicht so an der Nase herum!
So verstrichen die Tage. Alle achtundvierzig Stunden wiederholte sich das Auswürfeln genau nach bestehender Vorschrift und der Ausfall wurde jedem, den es betraf, telegraphisch nach dem Orte gemeldet, wo er sich zur bestimmten Zeit aufzuhalten hatte.
Endlich kam der 22. Mai heran. Von X. K. Z. verlautete nichts; auch in Wisconsin war er noch nicht aufgetaucht, freilich genügte es ja, wenn er sich nur am 27. im Postamte von Milwaukee einstellte. Lissy Wag, die jetzt fast ganz wieder hergestellt war, hätte sich nun wohl unmittelbar nach Milwaukee begeben und, entsprechend den Regeln des Spiels, die Stadt auch wieder verlassen können, bevor jener X. K. Z. daselbst eintraf, da drängte sich ihr aber gerade die Befürchtung auf, daß Jovita Foley, die infolge nervöser Ueberreizung dem Zusammenbrechen nahe war, an ihrer Stelle erkranken könnte. Sie erlitt wirklich einen leichten Fieberanfall, der sie zwang, das Bett zu hüten.
»Ich hatte es Dir vorhergesagt, meine arme Jovita; begann Lissy Wag. Du hast Dich nicht gehalten…
– O, das wird nichts zu bedeuten haben, meine Beste. Uebrigens liegt die Sache jetzt ganz anders. Ich bin am Spiele persönlich nicht betheiligt, und wenn ich nicht abreisen kann, so reisest Du eben allein…
– Nimmermehr, Jovita!
– Du wirst es aber vielleicht müssen…
– Niemals, sag’ ich Dir! Mit Dir… ja, obgleich auch da kein gesunder Sinn darin liegt. Ohne Dich… nein!«
Für den Fall, daß Jovita Foley sie nicht begleiten könnte, war Lissy Wag fest entschlossen, auf die Möglichkeit, William I. Hypperbone’s einzige Erbin zu werden, von vornherein zu verzichten.
Die Verhältnisse gestalteten sich jedoch unerwartet günstiger – ein Tag strenge Diät und vollkommene Ruhe genügten, Jovita Foley wieder herzustellen. Am Nachmittage des 22. konnte sie aufstehen und ging sofort daran, den Koffer zu packen, den die beiden jungen Mädchen auf ihren Fahrten durch die Vereinigten Staaten mitnehmen wollten.
»Ach, rief sie, zehn Jahre meines Lebens gäb’ ich darum, wenn wir schon unterwegs wären!«
Mit den zehn Jahren, die sie schon wiederholt um irgend etwas zu geben bereit gewesen war, und den zehn Jahren, die sie auf der Reise jedenfalls noch um dies oder jenes willen anbieten würde, blieb ihr freilich nur noch wenig Zeit über, auf dieser Erde zu wandeln.
Die Abreise wurde nun auf den 23. morgens acht Uhr festgesetzt, wo ein Zug abging, der binnen zwei Stunden Milwaukee erreichte, so daß Lissy Wag hier die Depesche des Meister Tornbrock noch vor der Mittagsstunde in Empfang nehmen konnte. Dieser letzte Tag wäre auch ohne jeden Zwischenfall verlaufen, wenn die beiden Freundinnen kurz vor fünf Uhr nicht noch einen ganz unerwarteten Besuch erhalten hätten.
Lissy Wag und Jovita Foley lehnten im Fenster und sahen nach der Straße hinunter, wo sich noch eine Anzahl Neugieriger herumtummelte, die die Blicke unausgesetzt nach ihren Fenstern gerichtet
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