Das Teufelsspiel
Freigelassenen im Umfeld von Douglass beschäftigte. Leider verfügte das Archiv nicht über die entsprechende Ausgabe.
Seite um Seite, immer weiter … Bisweilen zögerte Sachs und fürchtete, sie könnte einen der wenigen für den Fall relevanten Sätze überlesen haben. Mehr als einmal blätterte sie zurück und las ein oder zwei Absätze ein weiteres Mal, weil sie ihnen beim ersten Durchgang nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie streckte sich, rutschte ungeduldig herum, vergrub die Fingernägel in der Nagelhaut, kratzte sich am Kopf.
Dann vertiefte sie sich wieder in die Dokumente. Der Stapel des durchgesehenen Materials wurde immer höher, doch ihr Notizblock war noch vollkommen leer.
Nun kam die Geschichte der Stadt an die Reihe, und Sachs erfuhr mehr über Gallows Heights. Es handelte sich um eine von einem halben Dutzend früher Niederlassungen an der Upper West Side von New York, genau genommen um eigenständige Dörfer wie beispielsweise Manhattanville und Vandewater Heights (heutzutage Morningside). Gallows Heights erstreckte sich vom heutigen Broadway nach Westen zum Hudson River und von ungefähr der Zweiundsiebzigsten Straße nach Norden zur Sechsundachtzigsten. Der Name stammte aus der Kolonialzeit, als die Holländer auf einem Hügel im Zentrum der Ansiedlung einen Galgen errichteten. Nachdem die Briten das Land erworben hatten, exekutierten ihre Henker dort Dutzende von Hexen, Verbrechern, aufsässigen Sklaven und Kolonisten, bis die verschiedenen Justizgebäude und Hinrichtungsstätten von New York City in Downtown zusammengelegt wurden.
Im Jahre 1811 teilten Stadtplaner das gesamte Manhattan in die Blocks ein, die auch heute noch gültig waren, wenngleich dieses Raster während der nächsten fünfzig Jahre in Gallows Heights (und dem Großteil der restlichen Stadt) nur auf dem Papier existierte. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bestand das Gebiet aus einem Gewirr von Feldwegen, Freiflächen, Wäldern, einfachen Hütten, Fabriken und Trockendocks am Hudson River sowie einer Hand voll eleganter, weiträumiger Anwesen. Einige Jahrzehnte später hatte Gallows Heights eine Art gespaltene Persönlichkeit entwickelt, wie aus der Karte ersichtlich war, die Mel Cooper am Vortag gefunden hatte: Die großen Anwesen standen nun Seite an Seite mit Arbeitermietskasernen und kleineren Wohnhäusern. Aus Richtung Süden wucherten die von Banden beherrschten Barackensiedlungen der sich ausbreitenden Stadt heran. Und William »Boss« Tweed leitete die korrupte, nach ihrem Hauptquartier Tammany Hall benannte Parteiorganisation der Demokraten überwiegend aus den Bars und Restaurants von Gallows Heights – so durchtrieben wie ein Straßendieb, nur raffinierter und in größerem Maßstab. (Tweed war vor allem darauf aus, an der Entwicklung des Viertels zu verdienen; durch seine Winkelzüge gelang es ihm beispielsweise, der Stadt eine winzige Parzelle im Wert von weniger als fünfunddreißig Dollar zu verkaufen und dafür eine Vergütung von sechstausend Dollar einzustreichen.)
Inzwischen war diese Gegend ein Prunkstück der Upper West Side und natürlich eines der hübschesten und wohlhabendsten Viertel der Stadt. Für ein Apartment ließen sich hier mehrere Tausend Dollar Monatsmiete erzielen. (Und außerdem beherbergte das heutige Gallows Heights einige der besten Delikatessenläden und Bagel-Bäckereien von ganz Manhattan, wie die verärgerte Amelia Sachs in ihrem »unbedeutenden« Kellerverlies feststellte; sie hatte heute noch nichts gegessen.)
Unzählige historische Fakten zogen vor ihren Augen vorbei, doch nichts davon betraf den Fall. Verflucht, sie sollte eigentlich Spuren analysieren oder – noch besser – sich in der Nachbarschaft des Täterverstecks umhören, um eventuell mehr über seinen Wohnort oder seine Identität herauszufinden.
Was, zum Teufel, hatte Rhyme sich bloß dabei gedacht?
Schließlich kam sie zu dem letzten Buch des Stapels. Sie schätzte den Umfang auf fünfhundert Seiten (mittlerweile hatte sie ein Auge dafür); es waren fünfhundertvier. Keines der Schlagworte im Index erregte ihre Aufmerksamkeit. Sachs überflog die Seiten, doch dann konnte sie es nicht länger ertragen. Sie warf das Buch auf den Tisch, stand auf, rieb sich die Augen und streckte sich. Ihre Klaustrophobie machte sich in der drangvollen Enge des zwei Etagen unter der Erde gelegenen Archivs immer stärker bemerkbar. Die Stiftung mochte ja letzten Monat renoviert worden sein, aber das hier unten war
Weitere Kostenlose Bücher