Das tibetische Orakel
direkt in die Augen sah. Khodrak ging davon aus, die Tibeter seien allesamt Hirten oder Bauern. Die Landarbeiter standen an der Spitze der von der Partei für ihre klassenlose Gesellschaft geschaffenen Hierarchie. Shan überlegte fieberhaft. Er sah die Aushänge in der Eingangshalle vor sich, dann die chinesischen Flaggen, den kräftigen Gyalo allein beim Dunghaufen und den Büroflur vor der Tür, der wie die Einsatzzentrale einer Regierungsbehörde wirkte. Sein verstohlener Blick richtete sich auf den leeren Stuhl. Khodrak trug den Amtstitel eines Vorsitzenden, nicht etwa den eines Abtes oder kenpo , der traditionell einem jeden tibetischen gompa vorstand. Wenn Gyalo von der Leitung des Klosters sprach, benutzte er den Plural. Shan kannte auf einmal den Grund. Norbu war das Modell eines wahrhaft modernen gompa , an dessen Spitze kein LamaAbt, sondern ein dreiköpfiges Demokratisches Verwaltungskomitee agierte.
Während eines Wintersturms, der sie zwang, in ihren Lagerbaracken auszuharren, hatten Shan und seine Mitgefangenen einst dem Bericht eines jungen Mönchs gelauscht, der kurz zuvor zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war. Der Mönch hatte der Führung seines gompa getrotzt und sich geweigert, eine Erklärung zu unterzeichnen, in der er Vaterlandsliebe geloben und sich verpflichten sollte, niemals gegen Pekings politische Linie aufzubegehren. Die älteren Mönche begriffen nicht, weshalb Äbte und Lamas einen solchen Schwur verlangen und etwaige Abweichler gar in ein chinesisches Gefängnis stecken würden. Der junge Mönch mußte es ihnen mehrfach erläutern, was er auch geduldig tat: Die Leitung seines gompa war von einem neuen Gremium übernommen worden, einem sogenannten Demokratischen Verwaltungskomitee. Dieses Komitee prüfte die korrekte politische Gesinnung der Mönche und ließ sie bei Zusammenkünften nicht nur Sutras rezitieren, sondern auch die chinesische Version der tibetischen Geschichte, laut derer Tibet schon immer chinesisch gewesen sei und die einheimische Bevölkerung von den Chinesen abstamme.
Der Diener brachte Khodrak nun einige schmale, etwa fünfzehn Zentimeter lange Kästchen. »Bitte«, verkündete Khodrak. »Für Ihren Beitrag haben Sie alle sich eine Anerkennung verdient.«
Er sprach mit gönnerhafter Stimme, langsam und laut, als sei er es gewohnt, Reden zu halten. Der junge Mönch reichte den Gästen jeweils eines der Kästchen und bedeutete ihnen, es sogleich zu öffnen. Im Innern lag eine dicke rote Plastik- dorje , das Donnerkeilsymbol, das in vielen tibetischen Ritualen vorkam. Der Mönch zeigte Nyma, daß man ein Ende herunterdrücken konnte, woraufhin ein leises Klicken ertönte. Ein Kugelschreiber. Auf der Unterseite stand in chinesischen Buchstaben eine Inschrift: Büro für Religiöse Angelegenheiten.
Shan blickte auf. Sein Mund war trocken. Khodrak musterte neugierig jeden der Anwesenden und strich gedankenverloren über das Monogramm seiner Robe. Shan hatte irgendwo gehört, daß das Büro für Religiöse Angelegenheiten den Mitgliedern der Demokratischen Verwaltungskomitees Gehälter zahlte. Er sah aus dem Fenster. Draußen wurde es dunkel. Es war zu spät, das gompa noch zu verlassen.
»Sollte unser ganz besonderer Freund nicht noch ein Exemplar erhalten?« fragte Khodrak den Diener. Es klang wie ein Befehl.
»Jawohl, Vorsitzender Rinpoche«, entgegnete der Mönch ausdruckslos.
Er ging zu Shan und streckte ihm ein weiteres der Kästchen entgegen. Shan sah Khodrak an. Sein ganz besonderer Freund. Weil Shan ein Han-Chinese war. »Nein, vielen Dank«, sagte er angespannt. »Leider kann ich nur mit einer Hand schreiben.«
Khodrak kicherte und brach dann in lautes Gelächter aus, in das zunächst Direktor Tuan und schließlich auch der Diener einfielen. Shans Freunde lächelten gequält. Auf einmal verstummte Khodrak und verschränkte die Hände, so daß nur die Zeigefinger ausgestreckt blieben. Das war kein mudra. Er deutete auf jemanden. Auf Tenzin.
»Vielleicht sollte Ihr Freund einen Arzt aufsuchen. Wir haben Spezialisten hier, die den weiten Weg aus Lhasa hergekommen sind.«
Einen Arzt aufsuchen. Die Worte ließen Shan zusammenzucken, denn sie waren ihm noch aus seiner Zeit im Gulag vertraut. Mit dieser Umschreibung drohten die Wachen den aufsässigen Gefangenen eine Sonderbehandlung bei den Fachleuten der Kriecher an, die dafür zumeist elektrische Viehtreiber, kleine Hämmer und nadelspitze Zangen benutzten.
»Plagen Ihre Beschwerden Sie schon
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