Das tibetische Orakel
Religiöse Angelegenheiten. Aber davor war er zwanzig Jahre bei der öffentlichen Sicherheit. Das ist die beste Voraussetzung, um in einer so sehr der Tradition verhafteten Gegend einen leitenden Posten bei der Religionsverwaltung zu bekommen«, stellte der Mönch verbittert fest und sah Shan an. »Nicht alle, denen es befohlen wird, kommen her. Manche verstecken sich einfach und warten ab. Bis vor einiger Zeit bin ich oft unterwegs gewesen, um den Hirten und Bauern so gut wie möglich zu helfen. Inzwischen darf ich kaum noch ohne Eskorte vor die Tür.«
»Aber Padme war weit weg von hier und ganz allein«, sagte Shan langsam. »Einen Tagesmarsch entfernt, ohne auch nur eine Wasserflasche dabeizuhaben.«
»Padme braucht keine Erlaubnis«, flüsterte Gyalo dem Yak laut ins Ohr. »Und er geht ungern zu Fuß.«
»Aber so haben wir ihn vorgefunden. Kein Pferd, kein Wagen. Fast wie ein Einsiedler.«
Gyalo lächelte, als habe Shan einen guten Witz erzählt. Er wandte nicht mehr den Kopf und sprach nur noch zu dem Yak. »Ein alter Lama hat mal zu mir gesagt, wenn man sich lange genug anstrengt und die richtige Bewußtseinsebene erreicht, kann man fliegen lernen«, sagte er zu dem Tier und schlug mit den Armen, als wären es Vogelschwingen.
Shan musterte ihn verunsichert. »Hat er auch nach diesem Mann mit dem Fisch gesucht?«
Gyalo beugte sich über den Kopf des Yaks. »Vielleicht weiß er nichts von dropkas und heiligen Seen. Vielleicht weiß er nicht, was in heiligen Gewässern schwimmt.«
Shans Blick wanderte von dem Mönch zu dem Yak. Er begann am Geisteszustand des Mannes zu zweifeln.
Der Mönch wandte ihm den Rücken zu, und Shan stellte die Schaufel zurück an die Stallwand. Als er sich auf den Weg machte, sagte Gyalo noch einen letzten Satz. »Er sollte diese Nonne nicht ins obere Stockwerk lassen.«
Shan drehte sich um, doch der Mönch war über den Yak gebeugt und zog eine Strähne des langen Fells gerade, als hätte er nichts gesagt und als wäre Shan längst gegangen.
Gemessenen Schrittes kehrte Shan in die lhakang zurück und fand sie leer vor. Nyma sollte von der oberen Etage fernbleiben. Shan ging zu dem ersten der zweigeschossigen Gebäude, demjenigen, das dem Tor am nächsten lag, demjenigen mit dem Banner. An der Stirnseite des Hauses hingen Holzschilder, die er bislang nicht gelesen hatte. Das waren gar keine religiösen Lehrsätze, stellte er nun mit Schrecken fest, obwohl man sie in der eleganten tibetischen Schmuckschrift verfaßt hatte, die solchen Zitaten vorbehalten war. Nutzt Buddha, um dem Volk zu dienen , stand auf einem der Schilder. Verbindet die Worte Buddhas mit dem chinesischen Sozialismus , lautete ein anderes.
Langsam umrundete er das Gebäude und achtete genauer auf die beiden Leinen mit den Gebetsfahnen, die den Zwischenraum zum Nachbarhaus überspannten. An der vorderen hingen mani-Fahnen mit der Anrufung des Mitfühlenden Buddhas. Bei der zweiten hatte er sich geirrt. Sie bestand aus kleinen roten Wimpeln mit jeweils einem großen Stern in der oberen linken Ecke, daneben im Halbkreis vier kleinere Sterne. Die Nationalflagge der Volksrepublik China. Shan folgte der Westmauer der Anlage und sah, wie vier dropkas einen der altersschwachen Bauten betraten. Er folgte ihnen durch eine rissige Holztür in einen knarrenden Dielenflur und weiter in eine Kapelle von allenfalls dreieinhalb mal zweieinhalb Metern Grundfläche. Dicht an dicht saßen hier mehr als ein Dutzend Tibeter und betrachteten ehrfürchtig eine kleine Bronzestatue des Lehrers Guru Rinpoche. An der Wand zu beiden Seiten der Statue hingen insgesamt acht alte verblichene thangkas mit Abbildern der Tara; sie stellten die acht Gestalten der Gottheit dar, die Schutz vor acht Gefahren boten. Mehrere davon kannte Shan bereits. Eine Gestalt schützte die Gläubigen vor Schlangen und Mißgunst, eine andere vor Verblendung und Elefanten, eine dritte vor Dieben. Über der Statue war ein ebenfalls altes und verblichenes, aber sehr viel kleineres thangka befestigt. Shan erkannte die abgebildete Gottheit nicht sofort. Eine dropka rückte ein Stück zur Seite, so daß er sich setzen und das Stoffgemälde genauer in Augenschein nehmen konnte. Mit einem Mal wurde ihm alles klar. Das war kein wirklich altes thangka , sondern ein zu Zwecken der Tarnung künstlich auf alt getrimmtes Bild. Es zeigte einen Lama mit friedvollem Lächeln und dem Stab eines Bettelmönchs über der Schulter. Zeigefinger und Daumen seiner erhobenen Hand
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