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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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öffentlichen Sicherheit wimmeln.
    »Das Abendessen«, verkündete Khodrak unvermittelt. »Im Versammlungsraum wird bald das Abendessen serviert. Nehmen Sie sich Zeit. Genießen Sie unsere Gastfreundschaft.«
    Der Vorsitzende stand auf und verließ den Raum, dicht gefolgt von Tuan. Shan schaute ihnen hinterher. Nehmen Sie sich Zeit. Das schien eine besondere Redewendung Khodraks zu sein, eine Art Floskel. Der Vorsitzende klang dabei freundlich, nahezu gütig. Doch Shan hatte diese Worte zuvor schon gehört. Sie waren Bestandteil der tamzings , der Agitationssitzungen, bei denen starrsinnigen Bürgern das korrekte Gedankengut eingebleut wurde, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne. Nehmen Sie sich Zeit, würde ein tamzing-Leiter sagen, um seinen guten Willen zu verdeutlichen. Nehmen Sie sich Zeit, um alles noch einmal zu überdenken, bevor wir zu schmerzlicheren Mitteln greifen müssen, um Sie zurück auf den wahren Pfad der Partei zu geleiten.
    Vor dem Büro am oberen Ende der Treppe blieb Shan stehen und überlegte, ob er eintreten sollte, aber dann rief der Mönch, der sie bedient hatte, nach ihm, und er folgte den anderen die Stufen hinab. Aus dem Raum hinter dem Büro hörte er wütende Stimmen, konnte jedoch kein Wort verstehen. Durch eine Hintertür gelangten sie auf den Hof zwischen den beiden Gebäuden. Shan hatte Lokesh fast erreicht, als jemand ihm eine Hand auf den Arm legte.
    »Genosse Shan«, sagte eine ernste Stimme hinter ihm.
    Shan drehte sich um und blickte in die schwarzen, kleinen Kieseln gleichenden Augen Direktor Tuans. Tuan wies auf eine offene Bürotür. Shan zögerte und sah den letzten seiner Freunde nach draußen verschwinden. Eine Fessel schien sich um seine Brust zu legen, und seine Kehle wurde trocken, doch er betrat das Zimmer.
    Unmittelbar vor dem Fenster stand ein kleiner metallener Schreibtisch, so daß genug Platz für vier dick gepolsterte Sessel blieb. Sie gruppierten sich um einen niedrigen Couchtisch, auf dem eine lange Spitzendecke lag. Tuan schloß die Tür, ließ sich in einen der Sessel fallen und bedeutete Shan, es ihm gleichzutun. »Genosse«, wiederholte er, aber diesmal klang es wie ein herzlicher Gruß.
    Shan nahm auf der Kante des gegenüberliegenden Sessels Platz und nickte Tuan langsam zu. Auf dem Zierdeckchen lagen mehrere Stapel der Klarheitsbroschüre, die er bereits am See gesehen hatte.
    Tuan trommelte mit den Fingern auf der Sessellehne und nahm Shan genau in Augenschein, registrierte die ausgetretenen Stiefel und die geflickte Kleidung. »Für einen Mann wie Sie muß es sehr schwierig sein«, begann er.
    Shan nickte erneut. Sie kannten seinen Namen, hatten aber gewiß noch nicht die Zeit gefunden, seine Identität zu überprüfen und herauszubekommen, daß er immer noch offiziell als lao-gai -Gefangener galt.
    »Wie lange sind Sie schon in Tibet?«
    Tuan zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und legte sie auf die breite Lehne des Sessels.
    »Fünf Jahre.«
    Das schien Tuan zu gefallen. »Die meisten halten nicht mal ein Jahr durch. Meine Hochachtung. Leute wie Sie sind die wahren Helden der Arbeit. Es ist keine große Kunst, bei uns zu Hause jeden Tag in die Fabrik zu gehen. Aber Sie befinden sich hier an der vordersten Front unseres großen Kampfes.«
    Er nahm die Zigaretten und klopfte mit ihnen auf die Lehne. Shan hatte schon mehrere Mitarbeiter des Büros für Religiöse Angelegenheiten kennengelernt. Die meisten waren weichliche Bürokraten, die einfach ihre Zeit absaßen, bis man sie turnusgemäß auf einen besseren Posten im Osten Chinas versetzte. Nicht so Tuan. Er war wie ein hartgesottener Soldat und konnte auf eine erfolgreiche Laufbahn bei der öffentlichen Sicherheit zurückblicken.
    »Ihre Freunde behaupten, sie seien nach Norden unterwegs gewesen und vom Weg abgewichen, um Padme nach Hause zu bringen. Padme sagt, die Leute hätten Salz mit sich geführt.«
    Im Gegensatz zu Oberst Lin fragte Tuan nicht nach nagas , Yapchi oder Lhasa. Genaugenommen schien es sich hierbei auch weniger um eine Befragung als um eine Art Test zu handeln. »Das ist eine alte Tradition dieser Tibeter«, sagte Shan.
    »Wegen des Salzmonopols müssen entsprechende Steuern abgeführt werden«, stellte Tuan fest. »Falls Sie die Leute melden, gibt es eine Belohnung. Ich könnte es arrangieren und das Geld für Sie irgendwo deponieren lassen. Niemand würde es je erfahren.«
    Shan rang sich ein vages verschwörerisches Lächeln ab. Tuan hob beschwichtigend eine

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