Das tibetische Orakel
länger?« fragte Khodrak den Tibeter in fürsorglichem Tonfall. Er schien Tenzins Hände zu betrachten. Shan erinnerte sich an das rongpa-Dorf , wo Oberst Lin sich auf ähnliche Weise für Lokeshs Hände interessiert hatte. Warum? Gab es an Tenzins Händen irgendeine Besonderheit zu entdecken? Dann begriff Shan, worum es ging. Es waren nicht die rauhen schwieligen Hände eines rongpa oder Hirten.
»Das haben wir doch schon erzählt«, warf Nyma ein. »Tenzin wurde vom Blitz getroffen. Er spricht nicht. Aber er ist ein guter Arbeiter.«
Khodrak warf die Serviette, die neben seiner Tasse lag, quer über den Tisch. Tenzin hatte nach wie vor den Schmutz des Dunghaufens an den Wangen. »Sie sollten sich mal waschen«, merkte Khodrak beiläufig an und widmete sich den Gesichtern der anderen.
Shan beobachtete Tenzin und Khodrak und erschauderte. Der Tibeter musterte mit gespieltem Desinteresse die Tischplatte und verschränkte die Hände im Schoß, wo Khodrak sie nicht sehen konnte. Im Gegensatz zu Shan. Die Hände bildeten ein mudra: Die kleinen Finger waren verschränkt und die mittleren beiden Finger jeder Hand nach innen gekrümmt, während die Spitzen der Zeigefinger und Daumen sich berührten. Der Name des Symbols lautete Seelenbezwinger, und es schien auf Khodrak gerichtet zu sein. Plötzlich blitzte etwas auf. Shan hob den Kopf und sah, daß der Diener einen Fotoapparat hielt und eifrig Bilder von Shan und seinen Begleitern schoß.
»Vielleicht haben Sie schon davon gehört«, sagte Tuan mit öliger Stimme. »Mein Stellvertreter wurde ermordet.«
Tenzin starrte einen Moment lang auf seine Hände und dann langsam zu Khodrak. Die beiden Männer tauschten einen harten, herausfordernden Blick aus. Shan sah verwirrt dabei zu. In der Nacht von Chaos Ermordung war Tenzin zwar verschwunden, wurde aber gewiß nicht verdächtigt, denn sonst hätte man ihn bereits verhaftet. Auf einmal fiel Shan wieder ein, was Gyalo zu dem Yak gesagt hatte: Shan wisse nicht, was in heiligen Gewässern schwimmt. Der Mönch hatte nagas gemeint. Womöglich suchte Khodrak nach jemandem, der in Verbindung mit den Wassergottheiten stand. Bei einer Gelegenheit hatte Tenzin die Einsiedelei verlassen, um schwarzen Sand von den nagas zu holen. Eventuell hatte ein Spitzel ihn bei der Zeremonie am Flußufer beobachtet. Die Schreihälse verachteten nagas als Symbole der ältesten Traditionen Tibets. Falls sie Tenzin in Gewahrsam nahmen und wegen seines Interesses für die Wassergottheiten verhörten - auch wenn das bedeutete, daß sie geduldig auf ein schriftliches Geständnis des stummen Tibeters warten mußten -, würden sie letztendlich von der Einsiedelei sowie von Gendun und Shopo erfahren.
»War Padme Rinpoche aus diesem Grund auf der Hochebene unterwegs?« fragte Shan unvermutet, um Tuans Aufmerksamkeit abzulenken. »Wollte er behilflich sein, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen?«
Tuan sah Shan durchdringend, aber ohne jede Gefühlsregung an. Nyma und Lhandro wandten sich stirnrunzelnd zu ihm um und bedachten ihn mit verärgerten Blicken. Shan unterstellte, Padme könne etwas anderes als rein religiöse Zwecke angestrebt haben.
Khodrak hingegen schien die Frage keineswegs für ungebührlich zu halten. »In Zeiten wie diesen müssen wir alle wachsam bleiben«, sagte der Vorsitzende und nickte Shan wohlwollend zu. »Im Angesicht dermaßen bedeutender Fortschritte sind reaktionäre Anschläge stets am wahrscheinlichsten. Mord. Entführungen. Wenigstens bestätigt es unsere Arbeit.«
»Entführungen?« fragte Shan.
»Bestimmt haben Sie von dem Abt des Klosters Sangchi gehört, dem heiligen Führer dieser so wichtigen Institution. Ein Vorbild für alle rechtgläubigen Bürger Tibets. Der Urheber der Klarheitskampagne. Ein weiterer Märtyrer unserer Sache.«
»In der Zeitung stand, er sei nach Indien geflohen.«
»Wir wissen inzwischen, daß der Abt von überaus radikalen Anhängern der Widerstandsbewegung entführt wurde«, schaltete Tuan sich ein. »Vermutlich von denselben üblen Elementen, die keine achtzig Kilometer von hier den stellvertretenden Direktor Chao ermordet haben. Zweifellos werden sie versuchen, auch dem Abt ein Leid zuzufügen.«
Shan blickte auf den Tisch und versuchte, sich zu beruhigen. Was sollte das heißen? Daß der berüchtigte Tiger sich hier in der Gegend aufhielt? Daß der verschwundene Abt irgendwo in der Nähe gefangengehalten wurde? Wohl kaum, sonst würde es hier längst von Truppen der
Weitere Kostenlose Bücher