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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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berührten sich zum sogenannten mudra der Lehre. Es war Tenzin Gyatso, der gegenwärtige, vierzehnte Dalai Lama.
    Nach einer halben Stunde kehrte Shan auf den Innenhof zurück und begab sich abermals vor das Verwaltungsgebäude. Verwirrt sah er sich um und versuchte, das Gesehene irgendwie miteinander in Einklang zu bringen: die mani-Gebete über den Seiteneingängen und die Ärzte, die sich wie Kriecher aufführten, die riesige Gebetsmühle und ihre Betriebszeiten, die ehrerbietigen Göttergemälde und die roten Flaggen Pekings.
    Er betrat die Eingangshalle des Gebäudes und fand sie leer vor. Sie wurde lediglich von zwei großen modernen Gemälden geziert, stilisierten Pseudo-thangkas , sowie von einem weiteren Banner der Klarheitskampagne. Unter letzterem hing an einem großen Anschlagbrett eine gedruckte Mitteilung. Es war eine Datenübersicht. Die Bezirke des Büros für Religiöse Angelegenheiten erhielten Punkte für die erzielten wirtschaftlichen Fortschritte; die Vorgabe dabei lautete, religiöse Neigungen in ökonomisch produktive Bahnen zu lenken. Es gab eine Tabelle der Einzelkriterien, jeweils versehen mit der aktuellen Statistik und den Durchschnittswerten der letzten fünf Jahre: Anzahl der Schafe; Anzahl der domestizierten Yaks, Ziegen, Pferde; Nutzfläche des Gerstenanbaus; Anzahl der Kinder, die staatliche Schulen besuchten; Anzahl der Fahrzeuge; Produktionsmenge von Filz, Wolle und Milchprodukten. Shan überflog die Zahlen der vergangenen Jahre. Gemessen an den vorgegebenen Kriterien mußte dieser Bezirk zu den ärmsten in ganz Tibet gehören. Das deckte sich mit den von Drakte festgestellten Werten. Aber Drakte hatte doch mit Sicherheit keine Daten für diese Kampagne gesammelt.
    Am unteren Rand des Blattes stand eine Notiz in deutlicher, geübter Handschrift. Wir werden Klarheit erzielen, und zwar jetzt. Unterzeichnet von dem Vorsitzenden Khodrak. Daneben hing eine Ankündigung, die besagte, daß von allen Mönchen eine Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Tag der Arbeit erwartet wurde.
    Shan stieg eine Holztreppe am Ende der Halle empor. Im ersten Stock sah es aus wie in einer Behörde. Eine Tür am Anfang des Korridors öffnete sich in einen Raum, in dem ein Mönch und ein Mann mit Anzug saßen und jeweils rasend schnell auf einer Computertastatur schrieben. Die Monitore vor ihnen waren voller chinesischer Ideogramme. Über ihren Köpfen hingen zwei Fotos: eines von Mao Tsetung und eines des gegenwärtig in Peking amtierenden Vorsitzenden. Auf einem Tisch neben den Männern standen ein Faxgerät und ein großes Telefon mit Knöpfen für zahlreiche Leitungen. An einer Wand hing eine Landkarte mit den vertrauten fettgedruckten Worten Nei Lou am oberen Rand. Davor stand eine Schreibmaschine mit einem eingespannten Blatt Papier. Shans Blick verharrte bei ihr. Während der Reise mit Drakte hatten er und Lokesh in der Hütte eines Hirten eine ähnliche Maschine gesehen und dadurch die purbas in helle Aufregung versetzt. Die Kriecher stuften Schreibmaschinen noch immer als Geheimwaffen ein. Mehr als ein Dissident war einfach nur deswegen für schuldig erklärt worden, weil er eine eigene Schreibmaschine besaß.
    Shan ging an der offenen Tür vorbei und blieb vor einem großen Poster stehen, das mit dem Schriftzug des Büros für Religiöse Angelegenheiten versehen und ausschließlich in chinesischer Sprache abgefaßt war. Aufnahmebedingungen , lautete die Überschrift, gefolgt von zehn Kriterien.
    Punkt eins besagte, der Kandidat müsse mindestens achtzehn Jahre alt sein. Seit Jahrhunderten schickten viele tibetische Familien traditionell ihren ältesten Sohn in ein gompa , dies jedoch in einem sehr viel jüngeren Alter, weil der Lernprozeß für all jene, welche die Stufe des geshe und somit den höchsten Grad der klösterlichen Ausbildung anstrebten, durchaus mehr als zwanzig Jahre in Anspruch nehmen konnte.
    Der Kandidat müsse die Kommunistische Partei lieben, stand in der nächsten Zeile. Shan traute seinen Augen nicht. Die Partei lieben. Die Eltern des Kandidaten sollten zudem ausfindig gemacht werden und hatten ihr Einverständnis zu geben.
    Auch die Arbeitseinheit des Kandidaten mußte mit dem Wechsel zur Klostereinheit einverstanden sein. Das bedeutete nicht nur, daß gompas schlicht als eine andere Form von Arbeitseinheit galten, sondern auch, daß die jungen Männer zunächst eine andere Lebensweise und Tätigkeit kennenlernen mußten, bevor sie sich bei den politischen Leitern ihrer

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