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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Hand. »Ah, Sie haben selbst schon daran gedacht. Hervorragend.«
    Er hielt sich die Zigarettenpackung an die Nase, sog den Duft ein, zündete sich eine der Zigaretten an und legte sie vorsichtig auf dem Rand des Aschenbechers ab, der ebenfalls auf dem Tisch stand. »Man könnte Ihnen wegen Ihrer Reisebegleiter nicht mal einen Vorwurf machen. Ein Mann wie Sie trifft doch sicherlich auf alle möglichen Arten von Tibetern.«
    Shan biß die Zähne zusammen. »Meine Begleiter haben einen verletzten Mönch hergebracht«, erinnerte er Tuan.
    Der Direktor schürzte die Lippen zu einem schmalen Lächeln und atmete den Rauch ein, der vom Tisch aufstieg, fast so, als wäre der Tabak für ihn wie Weihrauch. »Diese Region ist eine ungezähmte Wildnis. Auf jedem Berg lauern kriminelle Elemente. Der Mörder des stellvertretenden Direktors Chao ist auch irgendwo dort draußen. Er muß derjenige sein, der Padme überfallen hat.«
    »Das klingt, als wüßten Sie, um wen es sich handelt.«
    »Natürlich. Wir führen immer noch denselben Krieg, der mit der Ankunft unserer Befreiungsarmee begann. Er ist nie wirklich zu einem Abschluß gelangt, sondern lediglich ein wenig aus dem allgemeinen Blickfeld gerückt.«
    »Das heißt, es ist Ihnen egal, um wen es geht.«
    Tuan zuckte die Achseln und beugte sich in den Rauch vor. »Ist es denen etwa nicht egal? Die holen sich einen von uns, wir holen uns einen von denen«, merkte er gleichgültig an, gefolgt von einem frostigen Lächeln. »Und es wird stets mehr von uns als von denen geben.«
    Shan sah, wie der Direktor das an den Seiten lange Haar glattstrich. Wirkte Tuan deshalb so ungerührt, weil er bereits für den entsprechenden Ausgleich gesorgt und Drakte eine tödliche Verletzung zugefügt hatte?
    »Die Zeit der Abrechnung naht«, sagte Tuan. »Es dauert nicht einmal mehr zwei Wochen. Doch bis dahin wird jemand wie Sie, ein Han in den Reihen dieser Leute, sich in ständiger Gefahr befinden. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
    »Ich habe vor den Tibetern keine Angst.«
    Aber er hatte Angst vor Tuan und dessen seltsamem Spiel. In zwei Wochen wollte der Direktor für den Mord an Chao Vergeltung üben. Dabei klang er, als ginge es um einen ganz gewöhnlichen Termin aus seinem vollen Kalender.
    Tuan beugte sich vor. »Dieser Bezirk ist im Wandel begriffen. Einem Han, der mit den Tibetern umzugehen weiß, dürfte eine strahlende Zukunft bevorstehen. Wir können jemanden wie Sie gut gebrauchen, denn all die anderen Lehrer müssen schließlich beaufsichtigt werden. Sie sollten sich schnell entscheiden. Es gibt bald eine Menge Ruhm zu verteilen, genug für jeden von uns.«
    Shan hätte ihn beinahe gebeten, das alles noch einmal zu wiederholen. Ruhm? »Andere Lehrer?«
    »Wir erwarten die Ankunft spezieller Fachleute. Vieles wird sich grundlegend verändern«, sagte Tuan.
    Shan starrte auf die Spitzendecke. Er kannte den üblichen Jargon leitender Beamter, aber der Direktor schien eine ganz eigene Sprache zu sprechen. »Was ist mit diesen Ärzten?« fragte Shan zögernd. »Sie jagen den Leuten Angst ein. Für die Fahndung nach dem Mörder sind sie doch gewiß nicht von Bedeutung, oder?«
    Tuan lächelte beifällig. »Es gibt einen Sonderbefehl aus Lhasa. Die nationale Sicherheit ist gefährdet. Aus Indien wurde ein ranghoher Kultführer eingeschleust.«
    »Die indische Grenze liegt sechshundertfünfzig Kilometer von hier entfernt.«
    »Der Kerl hat sich bislang geschickt der Festnahme entzogen.«
    »Aber wieso Ärzte? Wie soll die Einschüchterung der hiesigen Bevölkerung bei der Ergreifung helfen?«
    »Nationale Sicherheit«, wiederholte Tuan. Die Direktor sah auf die Uhr und erhob sich. Dann griff er in die Tasche, holte daraus eine Visitenkarte hervor und streckte sie Shan entgegen. »Ich weiß Bescheid. Rufen Sie mich an, sobald wir gewonnen haben. Kurz nach dem Maifeiertag.«
    Er warf Shan die Zigaretten in den Schoß und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Shan starrte ihm hinterher. Ich weiß Bescheid. Vermutlich waren diese Worte nur die leere Phrase eines arroganten Bürokraten und hatten nichts zu bedeuten, doch sie ließen Shan wieder an die furchtbare Nacht in der Einsiedelei denken. Es kümmert ihn nicht, wer sterben muß , hatte Drakte mit nahezu letzter Kraft gesagt. Er tötet Gebete. Er tötet, wofür er steht. Tuan war der Leiter der Religionsverwaltung, und er tötete die Religion.
    Shan legte die Zigaretten auf die Sessellehne und ging hinaus. Seine Freunde und

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