Das tibetische Orakel
dem Schluß, daß es sich bei dem Mann um einen jener verbitterten, wütenden Tibeter handeln mußte, die von den älteren Nomaden zu der Klause gebracht wurden, um das Mandala zu erfahren und darüber nachzusinnen, wieviel stärker als Haß und Angst doch das Mitleid sein konnte.
Der golok legte den Kopf merkwürdig schräg und beäugte das Mandala, als würden die Lamas und der Kreis aus Sand ihm erst jetzt auffallen. Er runzelte die Stirn, ließ sich auf die Knie nieder und verneigte sich einmal kurz bis zum Boden, um widerwillig seinen Respekt zu bezeugen. Als er wieder aufstand, murmelte er überrascht etwas vor sich hin, denn sein Blick war auf den Altar gefallen. Mit schnellen Schritten ging er an dem Mandala vorbei, kauerte sich vor das gezackte Auge und starrte es an. Der Stein interessierte ihn mehr als alles andere.
Shan hatte während seiner Haftjahre mehrere goloks kennengelernt. Nein, kennengelernt hatte er sie genaugenommen nicht, denn sie hatten sich stets geweigert, mit ihm zu reden, und ihn immer nur mit der stummen Abneigung angestarrt, die für ihre Feinde reserviert war. Sogar viele der anderen Tibeter gingen ihnen aus dem Weg, denn die golok-Stämme galten seit Jahrhunderten als besonders wilde und brutale Banditenhorden. Hätte Shan nicht unter dem Schutz der Mönche aus seiner lao-gai - Baracke gestanden, würden die goloks versucht haben, ihn zu ermorden. Er wußte von zwei chinesischen Gefangenen, denen es nicht anders ergangen war: Einer wurde auf seiner Pritsche gefunden; in seinem Hirn steckte ein Schraubenzieher. Den anderen hatte man mit einem angeschliffenen Löffel kastriert. Während der ersten Zeit im Arbeitslager wäre Shan der Tod durch die Hand dieser Männer regelrecht gelegen gekommen. Aber das damals war ein anderer Shan gewesen, eine andere Inkarnation - nach den wochenlangen Verhören durch die Öffentliche Sicherheit wollte der Peking-Shan, der ins Lager kam, nur noch von dem ständigen Schmerz und der Angst erlöst werden.
Gendun drehte sich um und sah Shan erwartungsvoll an. Nyma hatte ihren Baum in dem Sandrad vollendet. Shan kehrte an die Seite des Lama zurück und nahm den chakpa voll weißem Sand entgegen. Er schloß kurz die Augen, beugte sich vor und klopfte erneut gegen den Trichter, um diesmal drei geschwungene Berge zu erschaffen. Shan arbeitete schweigend, während Nyma und die Lamas das nahezu vollständige Mandala betrachteten, der Wind heulend über das Dach strich, die Butterlampen flackerten und Lokeshs geflüstertes Mantra im Rhythmus der Brise an- und abschwoll. Shan konzentrierte sich mit Leib und Seele auf die Sandkörner, die aus dem chakpa rieselten. Sie schienen zu leuchten; weiß wie frischer Schnee, weiß wie die Gottheiten, die in den Wolken lebten. Als die Berge schließlich fertig waren, wich Shan zurück und nahm neben Lokesh und Tenzin Platz, während Shopo einen chakpa mit blauem Sand hob, um einen Mönch zu malen, der inmitten von Shans Bergen saß.
Shan bemühte sich, in Gedanken nicht von dem Mandala abzuschweifen, doch der golok schritt mittlerweile rastlos im Hintergrund der Kammer auf und ab, sah im einen Moment das gezackte Auge an und beugte sich gleich darauf vor, um Shan anzustarren. Shan wußte, was der Mann dachte, denn er selbst stellte sich diese Frage schon seit Wochen. Wieso Shan? »Weil du die Schliche der Dämonen kennst, die nicht wollen, daß die Gottheit wieder sieht«, hatte Nyma auf die Frage geantwortet und damit gemeint, daß er die Schliche der chinesischen Regierung kannte. »Es ist deine Belohnung«, hatte sie hinzugefügt. »Die Menschen wissen, wie du das Gleichgewicht wiederhergestellt hast, nachdem es gewaltsam gestört worden war. Du findest, was verloren wurde.«
Aber die Leute hier mußten doch eigentlich selbst wissen, wohin das Auge gehörte, hatte Shan eines Morgens zu der Nonne gesagt, als sie gemeinsam Wasser holen gingen. Nein, hatte Nyma mit runden traurigen Augen erwidert. Nachdem die Gottheit geblendet worden war, hatte sie sich tief ins Gebirge zurückgezogen. Das Tal von Yapchi, das ihr jahrhundertelang als Aufenthaltsort gedient hatte, war mehr als drei Kilometer lang, ungefähr halb so breit und auf drei Seiten von hohen Bergen umgeben, Bergen voller Spalten und Höhlen. Die Gottheit konnte überall stecken.
Noch vier weitere Male nahm Shan den chakpa mit weißem Sand, um Bilder von Wolken und Bergen zu erschaffen und dann den anderen bei der Arbeit an dem Rad zuzusehen. Jegliches
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