Das tibetische Orakel
seine Freilassung aus dem Lager von Lhadrung war inoffiziell erfolgt, als dankbare Geste des Ortskommandanten. Die Kriecher müßten nur die eintätowierte Nummer auf seinem Arm überprüfen und würden herausfinden, daß Peking ihn zwar ins lao gai gesteckt, aber niemals seine Haftentlassung verfügt hatte.
Als das Hornsignal erstarb, wandte Shan sich zu dem beunruhigten golok um, der inzwischen laut fluchte. In seinem Blick lag Verwirrung und Angst, und seine Hand ruhte nach wie vor auf dem Messer. Shan fragte sich für einen Moment, warum der golok nicht einfach die Flucht ergriff. Dann trat er neben Lokesh und ließ sich langsam mit übergeschlagenen Beinen nieder, die Augen starr auf das Gemälde gerichtet. Die Lamas arbeiteten unbeirrt an dem Mandala weiter. Bald würde es wieder an der Zeit für Shans weißen Sand sein.
Plötzlich tauchte auch der Hirte wieder auf, der im Korridor gewacht hatte. Er rang nach Luft, aber seine Miene wirkte zufrieden. Der golok verstummte und wich in den Schatten der Wand zurück, die Hand weiterhin am Messer. Die stämmige Frau hatte den Posten auf dem Kamm verlassen und trat hinter ihrem Bruder ein, gefolgt von einem hochgewachsenen schlanken Mann, der sich am Türrahmen festhielt.
Mit verzerrtem Gesicht sah der Neuankömmling sich in der Kammer um. Shan erkannte die entstellte Stirn wieder, das geschwungene Narbengewebe über den Augen. Es war Drakte, der purba , der Lokesh und Shan bei dem dropka abgeliefert und versprochen hatte, er würde zurückkehren. Der vermißte Drakte. Doch es war ein bleicher, erschöpfter Drakte, ohne das harte stolze Funkeln in den Augen, das Shan sonst immer an ihm bemerkt hatte.
»Er kommt«, stieß Drakte heiser und gequält hervor. »Es bleibt keine Zeit.«
Der junge Tibeter schien völlig ausgelaugt. Er hielt sich die rechte Hand an den Bauch und ging auf den Kreis am Boden zu, wobei sein Kopf unaufhörlich hin- und herschwang, als suche er etwas ganz Bestimmtes. Als er Tenzin im Schatten sitzen sah, hielt er kurz inne; dann richtete sein Blick sich auf Shan. »Nimm das Auge«, keuchte er. »Nimm das Auge und lauf.«
Nyma seufzte und fuhr mit der Arbeit fort, umriß mit ihrem chakpa einen Berg aus blauem Sand. Shan hingegen registrierte, daß Gendun den purba mit leicht geneigtem Kopf und verkniffenem Blick in Augenschein nahm, als habe Drakte etwas an sich, das der Lama nicht verstehen konnte.
Lokesh erhob sich und ging einen Schritt auf Drakte zu, der ihn mit ausgestrecktem Arm auf Abstand hielt.
»Es kümmert ihn nicht, wer sterben muß«, stöhnte der purba. »Er will den Stein finden. Er tötet, wofür er steht. Er tötet Gebete. Ich habe ihn töten gesehen. Man kann ihn nicht aufhalten. Lauft weg«, wiederholte er, und es klang wie ein Schluchzen. »Ihr könnt nur noch weglaufen. Rettet das Auge. Rettet euch selbst.«
Bei diesen Worten sah er traurig Shan an. »Es tut mir leid«, klagte er, als sei er Shan etwas schuldig geblieben.
Shan wußte nicht, was er tun sollte, und trat an den Rand des heiligen Kreises. Er wollte die Hand ausstrecken und den purba stützen, wollte anbieten, im Nebengebäude gemeinsam eine Schale Tee zu trinken und in Ruhe Draktes Befürchtungen zu erörtern, als die dropka aufkeuchte, auf die Knie fiel und sich tief in Richtung der Tür verneigte. Der golok ächzte und rannte hinter den Kreis, auf den Altar zu. Nyma blickte auf, stieß einen gedämpften Schrei aus und vergaß ihren chakpa , so daß der blaue Sand sich auf dem Mandala zu einem kleinen Haufen türmte.
In der Türöffnung stand eine groteske zweibeinige Gestalt, deren enorme Statur den gesamten Rahmen ausfüllte. Ihr wilder, zorniger Blick hatte sich auf den purba gerichtet. Das ist ein Mann, dachte Shan, oder zumindest ist es mal einer gewesen. Er hatte sich so sehr an die tibetischen Geschichten über Dämonen gewöhnt, war so vertraut mit den Bemühungen der Lamas, sich ein Bild von den Gottheiten zu machen, daß er einen Moment lang bezweifelte, ob dieser Anblick real war. Der zweite dropka rief den Namen der heiligen Tara, der Beschützerin der Gläubigen, und warf sich zu Boden.
Der Kopf des Eindringlings besaß menschliche Form, wirkte mit den geschwärzten Wangen und dem schmierigen festen Haarknoten auf dem Scheitel aber irgendwie tierisch. Sein Kreuz war breiter als die Türöffnung, und so mußte er sich drehen und vorbeugen, um den Raum zu betreten. Ein Arm, der aus dem ärmellosen braunen Gewand ragte, war oberhalb des
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