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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Ellbogens mit einer roten Schnur umwickelt und hielt einen mehr als schulterhohen Stab, der fast so dick wie Shans Bizeps war und in einem knorrigen Holzknoten endete.
    Shopo stand auf und hielt dem Fremden wie zur Begrüßung die offene Handfläche entgegen, doch noch bevor der Lama das Wort ergreifen konnte, schlug der Mann Drakte mit seinem Stab in den Bauch und brüllte den purba an. Er sprach schnell und dermaßen laut, daß seine Stimme den Wind übertönte. Die dropkas hielten sich die Ohren zu. Die alten Schulen des tibetischen Buddhismus lehrten, daß es böse Mystiker gab, deren Machtworte einen zufälligen Lauscher versklaven konnten.
    Der riesige schwarzgesichtige Eindringling schien jedoch weder die dropkas noch die Lamas zur Kenntnis zu nehmen. Er schrie mit seiner tiefen dämonischen Stimme weiterhin auf Drakte ein, stach mit dem Stab nach ihm und traf den jungen Tibeter an Bauch, Armen und Oberschenkeln. Shan bemühte sich vergeblich, die Worte zu verstehen. Sie waren tibetisch, aber ihre Bedeutung blieb ihm verborgen. Es konnte sich um Alttibetisch handeln wie in den uralten Lehren oder um einen der vielen Dialekte aus Tibets entlegenen Regionen. Lediglich einen Namen vermochte er herauszuhören: den von Yamantaka, dem Herrn der Toten.
    Draktes Gesicht verlor das letzte bißchen Farbe. Die Wut, die kurz in seinen Augen aufgeblitzt war, wich gleich darauf der Angst. Er hob die Hand vor die Brust und trat zurück, um aus der Reichweite des Stabs zu gelangen, bis er plötzlich im Zentrum des zerbrechlichen Mandalas stand. Hektisch hielt Shan nach irgendeiner Waffe Ausschau, um den purba damit zu verteidigen. Drakte konnte unterdessen den Blick nicht von dem Dämon abwenden und fing an, mit bebenden Lippen das mani-Mantra zu rezitieren, die Anrufung des Mitfühlenden Buddhas.
    Der Eindringling verstummte unversehens, starrte feindselig Drakte an und schüttelte mit kurzen abgehackten Bewegungen den Stab. Das einzige Geräusch im Raum war das Mantra des purba , das allmählich in leises Wimmern überging. Drakte begann wie in einer starken Brise zu schwanken. Shopo wandte sich ihm zu, und der junge Tibeter hob eine Hand, als wolle er um Hilfe bitten. Doch seine Hand zitterte und sank langsam wieder herab, und Shopo stöhnte auf. Shan folgte dem Blick des Lama zu dem Mandala und erschauderte. Es änderte sich vor ihren Augen: Die Farben vermischten sich, und eine dunkle Wolke breitete sich über das komplizierte Muster aus, als habe etwas Böses die Macht übernommen.
    Shan war völlig entgeistert und konnte sich die Vorgänge der letzten paar Augenblicke nicht erklären. Fassungslos wurde er Zeuge, wie erst Nyma und dann die dropkas verzweifelt aufschrien und auf das wirbelnde Mandala zeigten. Die plötzliche Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Schmerz. Das war Blut. Aus Draktes rechtem Hosenbein lief dunkelrotes Blut, sammelte sich zu seinen Füßen und bedeckte das kostbare Mandala.
    Shan machte einen zögernden Schritt nach vorn, dann noch einen. Er wollte die Hand ausstrecken und Drakte helfen. Der purba schien seine Absicht zu ahnen und drehte sich mit mattem, verwirrtem Blick zu ihm um. Im nächsten Moment jedoch verließ den schwankenden Mann die Kraft. Er sank auf die Knie und stürzte dann schwer aufs Gesicht.
    Shan schaute kurz zur Tür. Der Dämon war verschwunden.
    »Wie furchtbar!« rief die dropka mit lautem Schluchzen. »Es ist alles dahin.«
    Mit Tränen in den Augen starrte sie das Mandala an.
    Zwei Monate hatten sie daran gearbeitet. Das heilige Gemälde war verunreinigt und zerstört. Die Götter würden es verlassen - und mit ihm vielleicht auch die Menschen.
    Lokesh lief an Shan vorbei, kniete sich neben Drakte und barg dessen Kopf in seinem Schoß. Das Gesicht des alten Tibeters verfinsterte sich, und mit leisem schnellem Murmeln stimmte er eine andere Art von Gebet an. Auch Lokesh war nun klar, was Shan bereits dem glasigen leeren Blick des jungen purba entnommen hatte. Drakte war tot.

Kapitel 2
    »Dein Geist ist im Grunde Leuchten und Leere«, sprach Gendun leise und ließ sich neben der Leiche des jungen Tibeters nieder. »Er bildet eine große Ansammlung des Lichts jenseits von Geburt oder Tod.«
    Er hatte beim Anblick von Draktes Gesicht sofort den Bardo-Ritus angestimmt und rezitierte nun die uralten Worte, während die beiden dropkas den Toten ehrerbietig am Boden zurechtlegten. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Die Tibeter glaubten, daß Drakte gegenwärtig einen Sturz in

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