Das tibetische Orakel
Ming.«
Shan und Winslow stellten sich ebenfalls vor. Der Professor ging zu den Mänteln und hob sie an. Darunter verbarg sich ein Holzkasten, der wie eine alte Werkzeugkiste aussah. Ma öffnete das Vorhängeschloß, klappte den Deckel auf, nahm einen in schwarzen Filz eingewickelten Gegenstand und reichte ihn Shan. Es war ein schweres Stück Bronze, etwa fünf Zentimeter breit und leicht gewölbt, auf dem zwei Reihen Schrift standen. Die obere Reihe bestand aus tibetischen Buchstaben, die untere aus chinesischen Ideogrammen, und beide waren sie reichhaltig verziert. Im Tibetischen benutzte man eine solche Schrift traditionell für religiöse Texte und Sutras. Das Bruchstück ließ kaum Rückschlüsse auf die ursprüngliche Botschaft zu. Bis vor fünfzig Jahren, als die kommunistische Regierung diesen uralten Brauch verwarf, hatte man chinesische Ideogramme in vertikaler Richtung, also von oben nach unten geschrieben, so daß die wenigen chinesischen Zeichen auf dieser Bronzescherbe keinen zusammenhängenden Sinn ergaben. Das erste Ideogramm war lao , das Wort für »alt«. Das zweite hieß yu. Jade. Das dritte war in der Mitte durchgebrochen und ließ sich unmöglich entziffern. Die tibetische Schmuckschrift war Shan nicht vertraut. Er glaubte das Wort »Schatz« zu erkennen, konnte sich aber nicht sicher sein.
»Eine samkang« , schlug Shan vor. Es konnte sich um das Bruchstück einer großen bronzenen Kohlenpfanne handeln.
Der Professor nickte. »Durchaus möglich.«
Shan versuchte, sich hier am Ende des Tals einen kleinen tibetischen Tempel vorzustellen, dessen Mönche sich bemühten, die heiligen Lehren ins Chinesische zu übersetzen. Leider hatte es alles nichts genützt, dachte er bekümmert. Er sah dabei zu, wie der Professor erneut den Eimer füllte. Winslow trug ihn zum Sieb. »Haben Sie die Grabung schon datiert?« fragte er.
»Nicht älter als zwei oder drei Jahrhunderte. Acht Zentimeter unter der Oberfläche liegt eine Schicht Kohle. Wenn ein hölzerner Tempel erst mal Feuer gefangen hat, bleibt kaum etwas davon übrig.«
»Wie groß war die Anlage?« fragte Shan. Die Bewohner des Tempels hätten bestimmt gewußt, wie man die Gottheit des Tals aufspüren konnte.
»Recht klein«, sagte der Professor und wies auf einige Löcher, mit denen er rund um das umgegrabene Stück die Ausmaße der Kohleschicht ergründet hatte. »Ein Gebäude mit kleinem eingezäuntem Hof.«
»Was geschieht mit Ihren Funden?«
»Uns wurde noch eine Woche genehmigt.«
Der Professor seufzte. »Dann schreiben wir einen Bericht und schicken ihn an die Bank. Es gibt einen Vordruck, mit dem wir bestätigen, daß eine umfassende Analyse durchgeführt und dabei keine einzigartigen oder bedeutsamen Gegenstände entdeckt wurden. Irgend jemand steckt das dann in eine Akte und vergißt es.«
Shan bemerkte die starre Miene des Professors. »Sie machen das nicht zum erstenmal.«
»Ich war schon in allen Regionen Tibets. In Amdo. Kham Tsang.«
Er benutzte die alten tibetischen Namen, nicht die von Peking festgelegten. »Es sind gute Ferienpraktika für meine Studenten.«
Lauter Motorenlärm unterbrach ihn. Sie wandten sich um und sahen Lins Transporter mit hoher Geschwindigkeit an der Westflanke des Tals. Die Lastwagen fuhren nebeneinander und zerstörten absichtlich die Frühlingsgerste.
Winslow fluchte. »Ich könnte das Funktelefon nehmen und die Botschaft unterrichten, daß die Armee sich in ein von Amerikanern finanziertes Projekt einmischt.«
»Nicht ohne vorher Mr. Jenkins zu fragen«, sagte Shan.
Der Professor schaute den Lastern wütend hinterher, setzte den Hut wieder auf und machte sich an die Arbeit, als würde das Auftauchen der Soldaten bedeuten, daß sie sich nicht weiter unterhalten durften.
Auf einmal hörte Shan wieder das Trommeln von hoch oben, obwohl es sich nun weiter südlich und höher als zuvor zu befinden schien. Der Professor hielt inne, blickte aber nicht auf, sondern starrte beunruhigt zu Boden. Shan mußte an Jenkins' seltsame Reaktion denken. Das Geräusch schien auch bei Ma etwas tief im Innern zu berühren.
»Wir müssen zurück ins Dorf«, sagte Winslow. »Sofort.«
Doch Shan zögerte und folgte Winslows Blick zu zwei neuen Fahrzeugen, die im Lager aufgetaucht waren. Ein weißer Geländewagen, neben dem zwei Männer in Anzügen standen, und ein nahezu identisches schwarzes Gefährt, das dahinter parkte. »Irgendwelche hohen Tiere der Firma«, vermutete er. »Sie könnten offiziell darum
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