Das tibetische Orakel
ließ sie Platz für Soldaten oder Han-Immigranten machen.
»Sie meinen, es werden ganze Städte verlegt?«
»Manchmal. Ich habe von einem Dorf oben in den Bergen gehört. So eine verfluchte Schande. Niemand hatte den Befehl zur Zerstörung erteilt. Irgendein Hitzkopf in einem Panzer hat einfach angefangen, aus fast einem Kilometer Entfernung darauf zu feuern. Er sagte, er hätte es für verlassen gehalten und seine Leute könnten auf diese Weise ein wenig üben.«
»Üben?« rief Winslow empört. »Die suchen sich ein altes tibetisches Haus und jagen es einfach in die Luft?«
Jenkins atmete den Rauch ein und sah Winslow nachdenklich an, erwiderte jedoch nichts. Ein Telefon klingelte; das Geräusch klang eher wie ein Summton. Der Manager hatte ein Funktelefon erwähnt. Jenkins' Sekretärin rief seinen Namen. Er stand auf. »Die Firma wird eine Entschädigung zahlen«, sagte er und verließ den Raum.
Shan lief zu dem Metalltisch und hob die obere Hälfte des Zeitungsstapels an.
»Wir müssen gehen«, sagte Winslow nervös.
Shan nickte, suchte sich das Exemplar heraus, das in der Woche nach dem Diebstahl des Steinauges erschienen war, faltete es zusammen, steckte es sich unter das Hemd und legte die anderen Zeitungen wieder zurück.
Als sie sich fünf Minuten später dem umgegrabenen Stück Boden näherten, waren die beiden Gestalten mit den Schürzen dort noch immer bei der Arbeit. Eine von ihnen gab aus einem Plastikeimer Erde auf ein rundes Sieb, das von der anderen langsam geschüttelt wurde. Die feinen Krümel rieselten hinab und türmten sich schließlich zu einem kleinen Haufen auf. Dann schlurfte der Mann mit dem Eimer zurück zur Grabungsstelle und füllte Erde nach. Als er den Kopf hob, bemerkte er Shan und Winslow. Er war ein Chinese, ungefähr Mitte Sechzig, mit dicker schwarzer Hornbrille und langem dichtem schneeweißem Haar unter einem breitkrempigen Hut. Seine Schürze verfügte über vier Reihen kleiner Taschen. An seinem Gürtel hingen ein kleiner Nylonbeutel und ein Futteral, in dem ein zierlicher Hammer und zwei dicke Pinsel steckten. Der Mann verzog das Gesicht und widmete sich wieder dem Eimer.
Shan schlenderte zur anderen Seite des Areals, wo die Assistentin des Mannes mit dem Erdsieb wartete. Neben ihr lag etwas, das wie ein Stapel Mäntel aussah. Auch sie war Chinesin, aber deutlich jünger und mit sehr kurzem Haar. Auf ihrem T-Shirt stand Bones Are Us.
»Manche Tibeter glauben, daß in der Erde Dinge vergraben liegen, die bei ihrer Entdeckung die ganze Welt verändern können«, stellte Shan ruhig fest.
Die junge Frau schaute zu ihm empor und neigte den Kopf. »Die Dinge, die wir finden, verändern meistens nur eines«, sagte sie, nachdem sie ihn einen Moment lang gemustert hatte. »Sie bewirken Rückenschmerzen und Blasen an den Händen.«
Ihr Kollege kam mit dem nächsten Eimer Erde, und sie beugte sich wieder über das Sieb. Eine blaue Tonscherbe kam zum Vorschein. Der Mann nahm sie und steckte sie in eine der kleinen Taschen.
»Der Manager hat erzählt, Sie hätten etwas mit einer Inschrift gefunden«, sagte Winslow.
Der Mann blickte verwundert auf. »Ihr Mandarin ist sehr gut. Die meisten Ausländer versuchen gar nicht, unsere Sprache zu lernen.«
»Wenn Sie im Dorf darum bitten, werden einige der Leute Ihnen vielleicht behilflich sein«, schlug Shan vor. »Es ist viel Arbeit für zwei Personen.«
Der Mann betrachtete ihn mit dem gleichen fragenden Blick wie zuvor die Frau. »Denen gefällt nicht, was wir hier machen. Gleich am ersten Tag haben sie einige ihrer Tiere über die Grabungsstelle getrieben.«
»Bestimmt nicht mit Absicht.«
Es schien Shan kaum vorstellbar, daß die Dörfler von Yapchi versuchen würden, die Arbeit des Archäologen zunichte zu machen.
»Niemand ist besonders freundlich zu uns.«
Der Mann ließ den Eimer sinken. »Bitte verzeihen Sie. Ich habe Sie für zwei dieser Ölarbeiter gehalten. Die kommen manchmal her und machen sich über uns lustig.«
»Arbeiten Sie denn nicht für das Projekt?«
Der ältere Han schüttelte den Kopf. »Unsere Universität hat einen Vertrag mit der Entwicklungsbank. Man zieht die Kosten von den Subventionen ab, die der Firma bewilligt wurden. Auf diese Weise sorgen die Banken dafür, daß wenigstens eine Studie angefertigt wird, bevor die anlaufende Produktion alles zerstört.«
Er nahm den Hut ab und wischte sich über die Stirn. »Ich bin Professor Ma aus Chengdu. Das hier ist meine Assistentin Fräulein
Weitere Kostenlose Bücher