Das tibetische Orakel
bitten, daß man Ihnen bei der Suche nach Larkins Team hilft.«
»Das ist zu riskant.«, setzte Winslow an, doch Shan ging bereits auf das Lager zu. Er hörte hinter sich einen Fluch, dann schloß der Amerikaner eilig zu ihm auf.
Zwei Minuten später befanden sie sich wieder zwischen den Wohnanhängern. Winslow hielt nach den Neuankömmlingen Ausschau, während Shan das Lager erkundete und herauszufinden versuchte, wo die Arbeiter aus Yapchi untergebracht waren. Vorsichtig schob er sich an einem riesigen Kipplaster entlang, bis er sich nur noch zehn Meter vor dem weißen Geländewagen und den beiden Anzugträgern befand. Die Männer waren Chinesen und redeten weder mit Jenkins noch einem anderen Projektmitarbeiter. Sie sprachen mit den Kriechern, die in der Nähe der Armeezelte übernachtet hatten. Erschrocken erkannte Shan einen der Männer. Direktor Tuan, den sie zuletzt bei dem Stall in Norbu gesehen hatten. Shan beugte sich vor und las die kleine elegante Aufschrift auf der Tür des weißen Wagens. Büro für Religiöse Angelegenheiten stand dort, ausschließlich auf chinesisch. Begleitet wurde Tuan von vier der Männer mit den weißen Hemden, die wie Leibwächter aussahen.
Plötzlich kam Oberst Lin aus dem Schatten neben den Armeetransportern zum Vorschein und hielt geradewegs auf die Besucher zu. Einen Moment später heulte der Motor des Kippers auf, hinter dem Shan sich versteckte. Der Laster fuhr los, und Shan stand völlig ungeschützt vor den Schreihälsen aus Norbu. Er drehte sich um, sah jedoch aus dem Augenwinkel, daß Tuan zu Oberst Lin lief. Während Lin und der Offizier der Kriecher sich leise berieten, fingen Tuan und seine Männer an, die Gesichter im Lager genau in Augenschein zu nehmen. Shan zog sich so schnell zurück, wie er konnte, und suchte verzweifelt nach Winslow oder wenigstens einem Versteck. Er wollte um die Ecke des vordersten Anhängers biegen, als Direktor Tuan mit schriller Stimme zu rufen begann: »Da! Das ist er! Der Kerl, der über beides Bescheid weiß! Verhaftet diesen Mann!«
Einer der Weißhemden blies auf einer Trillerpfeife. Tuan deutete auf Shan.
III. Stein
Kapitel 12
Es gibt Momente, sagte Lokesh manchmal zu Shan, während derer das Rad des Lebens sich mit doppelter Geschwindigkeit dreht und die vorgezeichneten Pfade mehrerer Menschen in einem Punkt zusammenführt, der für jeden der Betroffenen auf eigene Weise bedeutsam ist - und als Resultat scheint das Leben sich dann explosionsartig in ein Durcheinander aus Handlungen und Sinneseindrücken aufzulösen. Lokesh nannte diese Momente »Karmastürme«.
Shan befand sich plötzlich im Zentrum eines solchen Sturms. Oberst Lin brüllte wütend Befehle. Die Arbeiter an beiden Enden des Lagers gerieten in Unruhe; manche glaubten an einen Unfall, andere vermuteten Saboteure auf dem Gelände. Shan rannte um die Ecke des Anhängers und sah sich hektisch nach Winslow um. Ein Horn erklang und übertönte die Pfeife des Weißhemds; es war laut wie das Signal einer Lokomotive. Alle hielten mit ihrer Arbeit inne und fingen an, sich unten am Hang zu versammeln. Der große Sattelschlepper rollte los und verlor dabei die restlichen Rohre von der Ladefläche. Unter den ganzen Lärm mischte sich die geheimnisvolle Trommel - sie schlug schneller als je zuvor. Und oben bei den Holzfällern krachte ein riesiger Baum zu Boden.
Shan lief im Zickzack zwischen den Anhängern durch und fragte sich, ob er es wagen sollte, zum Dorf zu fliehen. Nein, es gab unterwegs keine Deckung. Man würde ihn leicht ausmachen und mit einem der Wagen einholen können.
Einige Arbeiter warnten lautstark vor dem offensichtlich führerlosen Lastwagen und wichen den rollenden Rohrstücken aus, während andere versuchten, die verlorene Fracht unter Kontrolle zu bekommen. Shan stolperte und fiel, doch die Männer eilten an ihm vorbei dem Lastwagen hinterher. Sie schienen zu glauben, daß man wegen des Fahrzeugs Alarm ausgelöst hatte.
Genauso abrupt wie es erklungen war, verstummte das Horn auch wieder. Das Signal der Trillerpfeife geriet ebenfalls ins Stocken und erstarb. Ein Mann rief etwas in seltsam ehrerbietigem Tonfall auf tibetisch, dann ein anderer auf Mandarin, und die meisten der Arbeiter blieben stehen und deuteten zum Hang. Dort auf dem östlichen Grat, wo die Straße aus dem Tal hinausführte, standen mitten auf einem von der Sonne beschienenen Fleck zwei Gestalten und blickten zum Lager hinab. Ein einzelner Mönch und daneben ein riesiger Yak. Die
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