Das tibetische Orakel
sie auf einem Baum. Die Leute hier denken nicht in Begriffen wie Ursache und Wirkung. Daher hat es oft keinen Zweck, jemanden zu fragen, warum etwas passiert ist. Es gibt keinen Grund für ein Ereignis, es gibt allein das Ereignis.«
»Aber für Sie und mich und für einen Kerl wie Lin ist es komplizierter. Wir glauben an Ursache und Wirkung.«
Winslow sah auf seine Hände. »Da gab es diese Frau in Peking, die Waisenkinder geliebt hat.«
»Lokesh sagt, daß ich die Dinge in umgekehrter Weise lerne und man eigentlich zuerst mit dem Herzen und dann mit dem Verstand begreifen sollte. Ich hingegen muß zunächst vernunftgemäß vorgehen und die Ursachen ergründen. Wieso sich zum Beispiel jemand mit einer Trommel oben auf dem Hang versteckt. Warum jemand Werkzeuge aus Jenkins' Garage stiehlt, nachdem man uns eine Nacht zuvor das Auge entwendet hat. Weshalb Lin sich wirklich im Tal von Yapchi aufhält. Aus welchem Grund dieser Geisterlama in den Bergen umherwandert. Wieso Melissa Larkin sich so stark zu dieser Gegend hingezogen fühlte. Falls wir Motivation und Reihenfolge erkennen können, wird vielleicht alles klar.«
»Reihenfolge?«
Shan zog unter seinem Hemd die Zeitung hervor, die in der Woche nach dem Diebstahl des Auges in Lhasa erschienen war. Sie bestand hauptsächlich aus Artikeln über die Klarheitskampagne, doch auf einer der Seiten im Innenteil fand sich eine kurze Meldung über einen Zwischenfall bei einer Armeedienststelle in Lhasa. Das Gebiet rund um das Hauptquartier der 54. Gebirgsjägerbrigade war abgesperrt worden, und die meisten Zivilangestellten hatte man entlassen. Auf der letzten Seite der Zeitung stand ein weiterer Artikel, den Shan aufmerksam las. Der verehrte Abt von Sangchi, der Urheber der Klarheitskampagne, war nicht zu einem verabredeten Termin aufgetaucht, um dort eine Rede zu halten. Jeder, der Angaben über den Verbleib des Mannes machen konnte, wurde aufgefordert, sich unverzüglich mit der öffentlichen Sicherheit in Verbindung zu setzen. Die Zeitung, die Shan in Norbu gelesen hatte und in der die Flucht des Abtes nach Indien vermeldet wurde, war erst mehrere Wochen später erschienen. Tenzin hatte behauptet, er sei bei der besagten Flucht zugegen gewesen.
»Reihenfolge«, wiederholte Shan. »Man betrachtet die Abfolge der Ereignisse und sucht nach Zusammenhängen.«
Er deutete auf den zweiten Artikel. »Warum beispielsweise der chenyi-Stein und der Abt von Sangchi in derselben Nacht verschwunden sind. Und die Motivation, wie wir sie heute etwa von Tuan erfahren haben.«
»Aber er hat doch gar nichts.«
»Er hat uns verraten, daß er von unserer Beziehung zu diesem Tal weiß und daß dies ebenfalls für die Person gilt, die er sucht, sonst wäre er nicht hier. Falls er sich aber für das Steinauge interessieren würde, wäre er schon früher hergekommen oder hätte diese Männer mit den weißen Hemden geschickt. Ich glaube, daß Lin und Tuan hinter derselben Person her sind allerdings mit folgendem Unterschied: Lin sucht diese Person weil sie etwas Bestimmtes getan hat, und Tuan sucht sie, weil sie etwas Bestimmtes ist oder darstellt.«
Die beiden Männer sahen sich an und starrten dann einige Minuten ins Tal.
»Was hat diese Frau im Lager gemeint, als sie sagte, wir würden noch alles verderben?« fragte Winslow schließlich.
Shan war bislang der Ansicht gewesen, der Amerikaner habe Somos Worte gleich wieder vergessen. Die Frau war im Auftrag der purbas im Öllager und tat dort etwas, das sie durch Shan und Winslow gefährdet sah. »Keine Ahnung«, sagte er.
»Nichts wird das Öl aufhalten«, sagte Winslow verbittert, als würde er das Projekt inzwischen ebensosehr hassen wie die Tibeter. »Um das zu bewirken, wäre wohl tatsächlich ein Gott vonnöten.«
Sie lauschten dem Trommeln fast eine Minute lang, bis Shan sich abermals an den Amerikaner wandte. »Sie sollten sich nicht in diese Angelegenheit verwickeln lassen. Gehen Sie lieber. Was hier geschieht oder noch geschehen wird, können Sie ohnehin nicht ändern.«
Winslow sagte nichts. Er schaute zu dem Bohrturm, hob das Fernglas an die Augen und wies mit ausgestrecktem Finger nach unten. In der Nähe des Geländes saßen mehrere Gestalten in chubas. Shan erkannte, daß sie einen Gebetskreis gebildet hatten. Vielleicht hatte Lepka ihnen von der versteckten Glocke erzählt.
Winslow deutete auf einige Soldaten, die zu dem Hang liefen, auf dem Gyalo und Jampa aufgetaucht waren. »Dieser Yak hat mir gefallen«, sagte
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