Das tibetische Orakel
entsprechenden Legende. »Grab irgendwo in Tibet ein Loch, und du wirst letztlich etwas finden«, sagte Lepka und seufzte. Er streichelte das winzige Lamm, das auf seinem Schoß lag.
»Könnte es nicht sein, daß die Gottheit dort früher gewohnt hat?« fragte Shan. »In einem kleinen gompa?«
»Es hat hier nie ein gompa gegeben«, wiederholte der alte Mann unwirsch und wandte sich dem Altar zu, um das Foto zu betrachten.
Shan sah ihn nachdenklich an. Hatte man ihm von der letzten Prophezeiung des Orakels berichtet? In meinen Bergen, in meinem Herzen, in meinem Blut , hatte die seltsame hohle Stimme in Anya gesagt. Verbindet sie, verbindet sie, verbindet sie , als ginge es um verwundete Menschen. So viele tot, so viele todgeweiht. Was würde Lepka aus diesen Worten schließen?
Doch der alte Mann beteiligte sich nicht länger an dem Gespräch. Er hatte sich zu seiner Frau an den Altar gesellt; beide waren mittlerweile in leise Gebete vertieft.
Shan ging hinaus und sah am anderen Ende des Dorfes eine kleine Menschenansammlung. Bei einer ausgebreiteten Decke aus Yakfilz saßen mehrere Leute am Boden; einige schütteten Körbe voller Gerste auf die Decke aus oder legten khatas dort ab, andere stellten Töpfe und Kessel hinzu. Als die Dörfler Shan bemerkten, grüßten sie ihn mit hoffnungsvollen Mienen und traten von der Decke zurück. Lokesh saß neben Nyma und half ihr, die Henkel der Töpfe aneinanderzubinden. Auf dem Schoß des alten Tibeters lagen ein Bleistiftstummel und ein langes Blatt Papier, auf dem Shan mehrere Zeilen von Lokeshs Handschrift erkannte.
Sein alter Freund lächelte. »Ich habe angefangen«, sagte Lokesh zufrieden, als ihm Shans Interesse an dem Zettel auffiel. »Mit meiner Botschaft für den Vorsitzenden in Peking.«
Shan starrte das Papier an. Er hatte geglaubt, Lokesh könnte den Gedanken an die unsinnige Pilgerfahrt zur Hauptstadt wieder verworfen haben.
»Ich werde sie ihm vorlesen, diesem obersten Vorsitzenden«, sagte der alte Mann in ungewohnt eigensinnigem Tonfall. »Wir werden zusammen Tee trinken, und ich werde ihm erklären wie die Dinge in Tibet liegen. Ich bin sicher, er hat es bisher noch nicht begriffen.«
Shan sah ihm in die Augen. Dieses herausfordernde Funkeln und der entschlossene Klang von Lokeshs Stimme waren etwas ganz Neues für ihn. Sein Freund warnte ihn davor, sich einzumischen, denn er fürchtete, Shan könnte Bedenken äußern. Aber Shan wandte sich ab und ließ den Blick über die Landschaft schweifen, lauschte dem Rumpeln des Bohrturms und dem fernen trotzigen Schlag der Trommel. »Ganz recht, er hat es nicht begriffen«, pflichtete Shan ihm bei.
Dann half er, die Vorräte zusammenzupacken, die zweifellos für die Flüchtlinge in den Bergen bestimmt waren. Eine der Frauen aus Yapchi stimmte ein sentimentales Lied an. Eine andere kniete sich hinter ein kleines Mädchen und flocht ihm die Haare zu Zöpfen. Von hier aus wirkte das Dorf ganz friedlich, und das Geräusch des Bohrturms wurde von dem Lied übertönt. Man kam sich fast wie bei einem Fest oder Picknick vor.
Plötzlich hallte ein lauter Knall wie Donner heran, gefolgt von einem sonderbaren Pfeifen. Die Frau hörte auf zu singen und hob mit verwirrtem Lächeln den Kopf, als habe jemand sich einen Scherz erlaubt oder Feuerwerkskörper gezündet. Dann explodierte in einigen hundert Metern Entfernung der Hang. »Anya!« schrie Nyma und rannte ins Dorf.
Kurz darauf stieß Shan zu Lhandro, der am nördlichen Ende der Ansiedlung stand und hilflos zu dem Panzer starrte, der auf halber Strecke zwischen Dorf und Bohrturm Position bezogen hatte. Auf einmal spuckte das Ungetüm Feuer, und der Donner war erneut zu hören, ebenso das Pfeifen. Dann explodierte der Hang erneut. Der Panzer war vorgerückt, um den Götterfelsen anzugreifen.
»Man hat uns erzählt, daß irgendein junger Offizier seine Leute Zielübungen veranstalten läßt«, sagte Shan, als wäre das irgendwie tröstlich. Doch die Situation schien keiner Worte zu bedürfen. Man feuerte noch zwei weitere Granaten ab, und als der Qualm sich verzog, war der Götterfelsen verschwunden und mit ihm ein größeres Stück des Hangs. Statt Bäumen und überwucherten Steinen sah man dort nur noch schwelende, aufgerissene Erde. Der Panzer wendete und hielt gemächlich auf das Öllager zu.
Niemand sprach über den Vorfall, obwohl manche der älteren Dorfbewohner wie betäubt wirkten und traurig zu dem rauchenden Stück Boden hinaufstarrten. Mit jähem Schmerz
Weitere Kostenlose Bücher