Das tibetische Orakel
er wehmütig, als würden sie Jampa und Gyalo kaum noch einmal zu Gesicht bekommen. Er sah Shan mit seltsam gepeinigter Miene an. »Wenn ich von all dem hier weiß und nichts unternehme, was bin ich dann noch?«
»Klug«, schlug Shan vor. »Ein Überlebender. Ein Ausländer, der sich deswegen keine Gedanken zu machen braucht.«
Winslow nahm den Helm ab und musterte die Nummer auf Vorder- und Rückseite. Dann blickte er geistesabwesend zu dem gegenüberliegenden Kamm, auf dem Gyalo und der Yak gestanden hatten. Sie lauschten dem Trommeln, das je nach Windstärke an- und abschwoll. »Vor vielen Jahren war ich daheim auf der Ranch meines Vaters, als mein Onkel durch den Tritt eines Pferdes getötet wurde. Ich kam unmittelbar nach dem Unfall hinzu. Meine Mutter rannte los, um einen Krankenwagen zu holen. Als ich mich neben ihn kniete, lief Blut aus seinem Mund. Ihm war klar, daß er sterben mußte, aber er sagte, es sei ihm egal, und verlangte, daß niemand dem Pferd etwas antun würde. Er sagte, falls er sich entscheiden müßte, entweder ein guter Cowboy zu sein oder einfach nur ein langes Leben zu führen, würde er jedesmal das Dasein als Cowboy wählen.«
Winslow setzte den Helm langsam wieder auf, erhob sich und setzte mit gleichmäßigen, entschlossenen Schritten seinen Weg fort, ohne sich noch einmal umzublicken. Das Dorf lag noch ungefähr anderthalb Kilometer entfernt.
Shan schaute dem Amerikaner nach, dann hinab zu dem fernen friedlichen Dorf. Die Menschen dort hatten nur eines gewollt: daß ihre Gottheit zu ihnen zurückkehrte. Er wurde von tiefer Traurigkeit ergriffen. Was er nun empfand, war keine Vorahnung mehr, sondern die Gewißheit einer bevorstehenden Tragödie. Niemand konnte das Tal retten, denn die Welt wurde von Ölfirmen und Leuten wie Oberst Lin kontrolliert, die glaubten, daß man sich der neuen Ordnung bedingungslos zu unterwerfen habe. Der Amerikaner konnte vielleicht noch so tun, als bestünde Hoffnung, doch Shan hatte gelernt, sich nicht selbst zu belügen. Lokesh und Gendun sagten, Shan leide unter Männern wie Oberst Lin und ihren Taten sogar noch mehr als die Tibeter, denn sie konnten alles als Teil des großen Schicksalsrades akzeptieren, während Shan stets den Drang verspürte, etwas daran ändern zu müssen.
Als Shan sich auf den Weg machte, war Winslow bereits außer Sicht verschwunden. Das Rumpeln des Bohrturms und der Lärm schwerer Maschinen drangen an sein Ohr. In einer Staubwolke näherte sich ein neues Fahrzeug. Shan blieb stehen, bis es hinter dem hohen Bohrgerüst anhielt, und erschauderte Es war ein Kampfpanzer. Das Geschütz richtete sich auf den Gebetskreis, und dann schaltete die Besatzung den Motor ab.
Eine Stimme in Shans Kopf schrie, er solle weglaufen, doch er konnte sich nicht von der Stelle rühren und starrte wie gebannt auf dieses Sinnbild des tibetischen Verhängnisses: den Panzer und den Gebetskreis. Seine Beine waren so schwer wie sein Herz, und er mußte sich regelrecht zwingen, sie wieder in Bewegung zu setzen. Eine Viertelstunde später befand er sich am nördlichen Ausgang des Tals, wo der Wind das Geräusch der Maschinen übertönte. Er hielt kurz inne, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen, ließ sich dann im Lotussitz nieder und lehnte sich an einen Baum. Es gab eine beruhigende Meditationsübung, die Gendun als Windsuche bezeichnete. Laß dich im Wind treiben und erweitere dein Bewußtsein auf die Natur um dich herum, um so zu innerer Erkenntnis zu gelangen. Shan benötigte diese geistige Reinigung. Es verlangte ihn mehr als alles andere nach der Leere, die diese Ruhe brachte, welche wiederum zur Klarheit führte. Also nahm er den Gesang der Vögel in sich auf, atmete den Duft des Wacholders ein, beobachtete eine winzige Biene, die zwischen gelben Blüten umherflog, und sah eine blaue Blume ihren Kopf über eine orangefarbene Flechte neigen. Nach einer Weile gesellte sich ein weiterer Sinneseindruck hinzu; es dauerte einen Moment, bis Shan ihn als den Geruch frischer Farbe erkannte.
Fünf Minuten später entdeckte er, woher der Geruch kam; einen knapp zwei Meter hohen und fast ebenso breiten Felsen, dessen Vorderseite rot angestrichen worden war. Shan umrundete den Felsen mehrere Male.
Die bemalte Fläche zeigte genau in Richtung der anderen Seite des Tals und somit auf den Bohrturm und das dahinter gelegene Öllager. Nach den zahlreichen Tropfspuren zu schließen, hatte man die Farbe in großer Eile aufgetragen; außerdem hatte die Menge
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