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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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nur für die Vorderseite des Felsens gereicht. Shan war sich sicher, daß der Anstrich allenfalls letzte Nacht oder sogar erst am heutigen Morgen aufgebracht worden war. Andernfalls wäre die Stelle ihm aufgefallen, nicht nur wegen der leuchtenden Farbe, sondern weil er solche Felsen bereits kannte, wenngleich sie für gewöhnlich alt, verblichen und von Pflanzen überwuchert waren. Im traditionellen Tibet bezeichneten derartige Markierungen den Wohnort einer Schutzgottheit.
    Er berührte die Fläche. Sie war klebrig, noch nicht vollständig getrocknet. Dann suchte er auf Händen und Knien den unteren Rand des Felsens ab. Es gab dort keine lockere Erde, in der jemand ein Stück Stein vergraben haben konnte. Und oben auf dem Felsen lag bloß ein kleiner Haufen Kot von einer Eule. Womöglich sollte der Anstrich die Chinesen verhöhnen. Oder die Aufmerksamkeit eines Gottes erregen, damit dieser bemerkte, was im Tal geschah. Oder eine Gottheit zurück zu ihrem Auge führen.
    Das Gras vor dem Felsen war niedergedrückt. Shan nahm den Ort genauer in Augenschein, registrierte die V- förmige Anordnung der umliegenden Felsen und den weiten, ungehinderten Blick auf das Öllager. Bevor der Trommler die Fläche angemalt hatte, hatte er hier gesessen und den Felstrichter dazu benutzt, das Geräusch zu verstärken und auf das Lager zu lenken.
    Shan umrundete die Stelle in immer größeren Kreisen. Es waren keine Hufspuren zu sehen, lediglich ein paar Stiefelabdrücke. Vermutlich handelte es sich um eine einzelne Person, die zu Fuß unterwegs war. Eine Person, die einen kleinen Topf roter Farbe und eine Trommel bei sich trug.
    Direkt hinter dem Felsen blieb Shan stehen, legte eine Hand auf die Oberfläche und schloß die Augen. Es schien noch ein Geräusch zu geben, zumindest dessen Überreste, ein merkwürdiges Rauschen, wie vom Wind. Doch im Augenblick war es windstill. Es glich einem Stöhnen, einem fernen Grollen oder einem gedämpften Dröhnen aus größerer Nähe. Dann setzte urplötzlich irgendwo oberhalb auf dem Hang das Trommeln wieder ein. Shan öffnete die Augen, rannte los und hielt dabei hektisch Ausschau, bis er am Fuß einer hohen Klippe ankam und erkannte, daß das Geräusch aus noch größerer Höhe kam. Die Stelle ließ sich nur erreichen, indem man die Felswand in weitem Bogen umrundete.
    Mit mulmigem Gefühl schaute er zurück zu dem roten Felsen. Vielleicht würden die Leute im Öllager ja nichts davon begreifen. Den Soldaten würde ein roter Stein wahrscheinlich überhaupt nichts sagen. Doch dann fielen ihm die Neuankömmlinge wieder ein. Die Schreihälse würden sofort Bescheid wissen. Und der Felsen würde ihnen ein Dorn im Auge sein.
    Die kleine Schlucht hinter Yapchi war menschenleer, als Shan dort eintraf. Im Dorf stieß er auf Winslow. Der Amerikaner saß vor einer der Erdmauern auf einer Bank und machte sich Notizen. Neben ihm hatten sich mehrere Dorfbewohner aufgereiht.
    »Namen und Ausweisnummern«, verkündete er, als er Shans fragenden Blick bemerkte. »Falls hier jemand von der Bildfläche verschwinden sollte, geht diese Liste an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Wenn hier schon Menschen enteignet werden, muß das Ölprojekt wenigstens Rechenschaft über sie ablegen können.«
    Shan sah, daß einige Dörfler das alte Holzhaus verließen. Lhandro reichte jedem zum Abschied die Hand. Shan ging zur Pforte des Hauses und wartete, bis alle gegangen waren. Dann kam Lhandro zu ihm.
    Der rongpa wußte nicht, wer den Felsen angemalt hatte, und konnte nicht sagen, ob jemand im Dorf rote Farbe besaß. »Unsere Leute glauben, es sei ein Zeichen«, erklärte er mit verhaltener Hoffnung.
    »Zumindest ein Zeichen dafür, daß der Dieb das Auge ins Tal gebracht haben könnte«, stellte Shan fest.
    Lhandros Miene hellte sich auf, dann nickte er ernst.
    »Ich habe da oben ein Geräusch gehört«, sagte Shan. »Ein Rauschen wie vom Wind, aber der Wind war es nicht.«
    Lhandro nickte erneut und musterte die Hänge. »Es heißt, auf dem Berg Yapchi gebe es Pforten zu einem hayal. Vielleicht ist das auch mit Gyalo und Jampa geschehen.«
    Er schien andeuten zu wollen, die beiden seien in einem der verborgenen Länder verschwunden.
    Nach einigen Minuten lud er Shan in das stille Haus ein, wo sie gemeinsam mit Lhandros Eltern Tee tranken und kalte Klöße aßen, während Shan von Professor Mas Projekt erzählte.
    Keiner der Dorfbewohner hatte je von einem alten Tempel gehört, nicht einmal von einer

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