Das Tibetprojekt
dem Präsidenten persönlich geladen worden. Das war ihm in seiner ganzen
Laufbahn noch nie passiert.
Fieberhaft überlegte er, was sich hinter dieser Einladung verbergen könnte.
Dass der Geheimdienst eingeschaltet wurde, war zunächst kein Wunder. Es ging um Tibet. Die Religion und die als »Autonomiebewegung«
kaschierten und vom Westen lebhaft geförderten separatistischen Bestrebungen der Tibeter spielten eine Schlüsselrolle nicht
nur in Fragen der inneren Sicherheit, sondern auch in der Außenpolitik der Volksrepublik China. Neben dem Streit um Taiwan
war Tibet das heißeste Eisen in den internationalen Beziehungen Chinas. Aber warum die Dringlichkeit und warum übernahm der
Präsident selbst das Ruder?
Mit diesen Fragen hatte Tang Wu gestern Nachmittag im Gefolge des Innenministers die Machtzentrale Chinas betreten. Hinter
den hohen roten Mauern der Verbotenen Stadt gelangte er an den Ort, den man Zhongnanhai nannte, mittlerer und südlicher See.
Hier hatte die Kommunistische Partei Chinas ihr Hauptquartier. An diesem verschwiegenen Ort traf sich der Ständige Ausschuss
des Politbüros der KP, die mächtigste Instanz im Reich der Mitte. Neun Männer regierten von hier aus China. Ihr Vorsitzender
war der Generalsekretär der KP und damit als Parteichef zugleich der Staatschef des bevölkerungsreichsten Landes der Erde.
Der erste Mann Chinas empfing Tang Wu und den Minister in bester Laune. »Das ist ein großer Tag für China! |38| Kommandant, wir werden Geschichte schreiben.« Er zeigte auf das Foto: »Und das ist der Schlüssel zu allem. Gut, dass Sie es
uns geschickt haben.« Er lächelte Tang Wu herzlich an.
Dieser bedankte sich vorsichtig.
»Wir haben lange auf diese Chance gewartet. Aber nun ist sie da«, sagte der Präsident. »Es wird ein Triumph von internationaler
Tragweite werden. Wir werden der Welt zeigen, dass China immer noch die alte Kunst der diplomatischen Kriegsführung beherrscht.«
Er schritt stolz durch den weiten Raum, dann wandte er sich Tang Wu zu. »Und Sie Kommandant, Sie werden mit dieser ehrenvollen
Aufgabe betraut.«
Tang bedankte sich erneut, wusste aber immer noch nicht, um was es eigentlich ging. Der Präsident erkannte seinen fragenden
Ausdruck und kam an seinen Tisch zurück. Er deutete auf das Foto. »Sie fragen sich, was ich meine?«
»Ja, Genosse Präsident. Verzeiht meine Unwissenheit.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ausnahmsweise können Sie mal nicht wissen, worum es hier geht. Kaum ein Mensch
weiß es. Und das ist genau unser Vorteil. Hören Sie ...«
Der Präsident machte einen Ausflug in die alte Geschichte. Er sprach über das alte China und seine lange, lange Beziehung
zu den Ländern im Himalaja und den nördlichen Steppenvölkern, besonders aber über Tibet. Als er fertig war, tat sich ein gewaltiges
Szenario vor Tangs geistigem Auge auf. Er stand sprachlos vor dem Bild und sagte: »Das ist ein großer Tag für China!«
»Ja«, sagte der Innenminister, »aber nur, wenn wir es richtig einfädeln.«
|39| »Stimmt. Die westliche Welt ist blind und die Meinungen vorgefertigt.«
»Richtig. Aber wenn wir ausgerechnet die Deutschen dazu veranlassen können, die Wahrheit ans Licht zu bringen, dann wird die
Welt ihnen zuhören«, sagte der Vorsitzende.
»Aber Genosse Präsident, die Deutschen werden dabei niemals mitspielen.«
»Richtig«, sagte der Innenminister. »Vielleicht nicht, wenn wir ihnen dieses Foto da geben, das Sie aus Tibet erhalten haben.
Aber mit diesem ...« Er nahm ein zweites Foto aus seiner Mappe und legte es neben das erste. »Damit, Kommandant, wird Berlin Himmel und Hölle
in Bewegung setzen.«
Tang Wu sah sich die beiden Bilder an. Sie waren völlig identisch. Bis auf eine kleine Änderung. Man nahm sie nur wahr, wenn
man sie kannte, so geringfügig war sie.
In der Tat hatte das Foto, das er dem deutschen Botschafter vorgelegt hatte, seine Wirkung auch nicht verfehlt.
Bei der Veränderung des Fotos hatten die Spezialisten des Innenministeriums ein glückliches Händchen gehabt. Tang Wu hatte
erst eingewendet, dass eine solche Manipulation sofort erkannt werden würde. Aber der Vorsitzende und der Innenminister beruhigten
ihn.
»Normalerweise hätten Sie recht, Kommandant. Aber schauen Sie sich mal die Uhr des Professors genau an. So etwas habe ich
im Leben noch nie gesehen.«
Tang Wu betrachtete das Bild noch einmal genauer. »Tatsächlich. Ein Wink des
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