Das Tibetprojekt
ist übrigens nichts Neues. Selbst die größten Geister der Menschheit
hatten Schwierigkeiten mit Freud. Zum Beispiel Einstein.« Decker nahm einen Schluck Champagner zu sich. Er wollte darüber
jetzt eigentlich nicht reden. Aber sie hakte wieder nach.
»Albert Einstein? Was hat der mit Freud zu tun?«
»Viel. Als er sich keinen Rat mehr wusste angesichts des Wahnsinns auf dieser Welt, da wandte er sich an Freud.«
»Einstein hatte Kontakt mit Freud?«
|52| »Oh ja. Es gibt einen berühmten Briefwechsel, in dem der Physiker den Analytiker fragt, warum es eigentlich Kriege gibt.«
»Eine große Frage.«
»In der Tat. Und Freud hat geantwortet. Äußerst lesenswert.«
»Kann ich mir vorstellen. Aber warum führt Freud dann so ein Nischendasein?«
»Gute Frage. Aber Sie kennen die Antwort. Kaum jemand ist bereit, die Herrschaft des Intellekts aufzugeben. Gefühle sind nun
einmal verpönt. Man lässt ihnen zwar in Kunst und Religion ihren Raum, aber zur Erklärung der Welt werden sie nicht gern herangezogen.
Das Reich des Irrationalen ist allen suspekt.«
»Sie sind also der Auffassung, die Menschen wollen mit unserem geheimen Seelenleben und der Tiefenpsychologie nichts zu tun
haben. Warum?«
»Wer kann schon die Wahrheit vertragen? Das ist oft so unangenehm, dass man lieber falsche Erklärungen akzeptiert und dabei
ruhig schläft.«
»Aber wenn Leute wie Einstein Freud befürworten?« Decker seufzte. So würde das nichts mit ihnen werden. »Hat er ja nicht.«
»Aber Sie sagten doch ...«
»... dass er sich an ihn wandte, ja. Aber als es darum ging, Freud den Nobelpreis zu verleihen, wie Thomas Mann es vorgeschlagen
hatte, da hat Einstein energisch widersprochen.«
»Freud war für den Nobelpreis vorgeschlagen?«
»Ja.«
»Und Einstein war dagegen.«
»Ja.«
»Hm. Und das Komitee?«
|53| »Auch das Nobelpreiskomittee trifft nicht immer sachliche und richtige Entscheidungen.«
Li Mai lächelte.
Da kenne ich noch so einen Fall,
dachte sie.
Darüber reden wir später – im Bett.
»
Was interessiert Sie eigentlich so an alledem?«, fragte Decker.
»Strukturen. Mechanismen. Der große Überblick. Ich möchte verstehen, wieso gewisse Dinge im großen Rahmen passieren.« Sie
ließ ihre Blicke über die Hochhäuser um sie herum wandern. »Was ist das?«
»Die Deutsche Bank.«
»Eine große Bank?«
»Die Nummer eins in Deutschland. Ihre Bilanzsumme übersteigt den Haushalt des ganzen Landes. Aber darüber wollen wir jetzt
nicht reden.«
Ich will eigentlich überhaupt nicht mehr reden,
dachte er und schob seine Fantasien zur Seite
»Nein«, stimmte sie zu. »Wo waren wir?«
»Der große Rahmen.« Decker konnte den Blick nicht von Li Mai abwenden.
»Ja, Reiche entstehen und vergehen. Seit Jahrtausenden. Und dabei treten jedesmal die gleichen Prozesse auf. Es fängt alles
klein an, oft mit einem einzigen, von einer Idee besessenen Menschen. Nicht selten ein Wahnsinniger, der durch seine Überzeugungskraft
die anderen ansteckt. Sie sind von ihrer Sache erfüllt, fangen an dafür zu kämpfen, beginnen Revolutionen, Feldzüge und Kriege.
Irgendwann kommt alles zum Stehen, stagniert, die Idee und ihr Imperium bricht wieder zusammen oder wird von einem stärkeren
überrannt. Jedesmal finden ungeheuerliche Schlachten statt, wird tausendfach gemordet und geplündert. Am Ende ist alles verloren.«
Sie machte eine kleine Pause und nippte nachdenklich an ihrem Glas. |54| »Es ist wie ein Fluch, der auf unserer Spezies lastet, wie ein kollektiver Untergangswahn.« Sie schaute ihn an: »Das will
ich verstehen.«
Decker überlegte, wie er das Gespräch endlich in eine andere Richtung lenken könnte. »Es gibt Leute, die behaupten, das sei
genetisch so in uns angelegt. Außerdem scheinen manche Tiere eine gewisse Lust am Töten zu verspüren. Es wurden Schimpansen
dabei gefilmt, wie sie scheinbar zum Vergnügen andere Affen jagen und umbringen. Oft akzeptieren sie dabei auch ihren eigenen
Tod.«
»Kann sein, aber dieser Ansatz interessiert mich nicht.«
»Mich auch nicht.« Decker blickte zu den wenigen, schwachen Sternen am Großstadthimmel hinauf und sagte: »Wenn Sie das wirklich
verstehen wollen, kommen Sie auf das Feld der Massenpsychologie. Die großen Greuel und Umwälzungen der Weltgeschichte werden
nicht von einzelnen angerichtet. Es sind Horden, Gläubige, Armeen, Massen in jeder Form. So etwas.«
Mist, er hatte sich hinreißen lassen.
»Was ist bei einer
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