Das Tibetprojekt
Aber einige trauten sich den Tanz zu. Auf ein Zeichen des Bandleaders hin wurden die Lichter und die Atmosphäre im Saal an
die Musik angepasst. Die Band nahm langsam Fahrt auf. Decker und Li Mai auch. Leidenschaftlich. Sinnlich. Voller Hingabe.
Sie tanzte zugleich anmutig und provokant. Den Gästen, die ihnen zusahen, stockte der Atem. Denn was sie dort sahen, erinnerte
jeden, vor allem die Männer, daran, dass der Mensch im Tiefsten wirklich noch eine animalische Seite hat. Dieser Tanz weckte
Erotik, Verlangen und Lust.
Li Mai tanzte gut und gewagt. Immer wieder gab ihr Kleid für Bruchteile von Sekunden Blicke auf Stellen ihres schlanken asiatischen
Körpers frei, die sonst nicht zu sehen waren. Sie öffnete die Beine, sie ließ sich in Deckers Arm fallen, bestieg sogar seinen
Schenkel. »Skandalös!«, zischte eine der älteren Damen, aber auch die jungen Frauen erwiesen sich als zu prüde für die Art
leidenschaftlicher Verführung, die Li Mai so öffentlich demonstrierte.
Decker allerdings schwieg und staunte. Li Mai umfasste |58| leicht seinen Hals und warf sich nach hinten, fast bis zur Brücke, ihr Kopf schwebte tief über dem Boden. Er hielt sie im
Kreuz und senkte leicht seinen Kopf in Richtung ihrer Brüste. Nur allzu deutlich zeichnete sich deren Form durch das dünne
Kleid ab. Decker spürte die neidischen Blicke der anderen Männer wie Nadelstiche im Rücken.
Irgendwann endete die Musik. Dann kam er. Dieser Blick von ihr. Durch die völlig zerzausten Haare. Wenn ein Mann und eine
Frau wissen, das es so weit ist. Dass sich die Spannung entladen muss. Beide fühlten es. Sie lag noch in seinen Armen und
öffnete ihren Mund. Ein wenig. Decker beugte sich zu ihr hin. Sie zögerten. Dann schloss sie ihre Augen und ihre Lippen berührten
sich fast. Aber Li Mai löste sich geschickt aus seiner Umarmung und flüsterte: »Nicht hier.«
Das war deutlich. Er nahm sie an der Hand und führte sie von der Tanzfläche. Sie verschwanden in Richtung Ausgang. »Ich wohne
gegenüber. Wir laufen«, sagte er und nahm sie in den Arm.
Als sie die Treppen hinabliefen und über den Vorplatz rannten, blickte der Pförtner ihnen verträumt hinterher. Was für ein
Paar!
Sie erreichten den 110 Meter hohen Turm aus Glas in wenigen Minuten. Li Mai las im Vorbeigehen gerade noch das Schild
Leeway Premium Suites,
dann rief Decker schon dem Portier zu: »Keine Besuche.« Der Mann und seine Kollegin lächelten höflich.
Der außenliegende Aufzug brachte Decker und Li Mai in den 29. Stock. Unter ihnen schimmerten die Lichter der Stadt.
Decker führte Li Mai vom Aufzug durch den Korridor |59| und schloss die Tür zu seiner Suite auf. Die junge Frau folgte ihm ein paar Schritte in die Dunkelheit und blieb gespannt
stehen. Er drückte auf einen Schalter und vor Li Mai tauchte eine wunderbare Welt auf. Die ineinander übergehenden Räume waren
mit Antiquitäten und Kunstwerken ausgestattet, die einen Kenner verrieten. Und einen äußerst wohlhabenden dazu. Für den Bruchteil
einer Sekunde tat es ihr leid, dass sie nicht unter anderen Umständen den Weg in diese kultivierte Umgebung gefunden hatte.
Es wäre so schön gewesen, einfach nur ein romantisches Mädchen zu sein und ein normales Leben zu führen. Vielleicht mit einem
Mann wie diesem. Sie ließ die Gedanken nicht zu, aber einen Augenblick lang verfluchte sie ihren Auftrag.
»Ich dachte, das wäre ein Hotel?«, sagte sie.
»Ich habe denen die Suite abgekauft.«
»Ein wunderschöner Ausblick ist das hier oben.«
»Deswegen gefiel sie mir. Sie musste nur etwas umgebaut werden – Champagner?«
»Avec plaisir.«
Decker ging an die Bar und holte eine Flasche aus dem Eisfach. Als er jetzt mit den Gläsern in der Hand zurückkam, stoppte
er an der Hifi-Anlage und legte eine CD ein. Sie erwartete ein zartes Violinsolo oder etwas dem Augenblick Angemessenes. Mozart
vielleicht. Aber statt dessen erklangen E-Gitarren . Mit einer unglaublichen Klangqualität zwar – aber das war doch wohl nicht sein Ernst. Er kam mit einem rätselhaften Lächeln
auf sie zu, bot ihr ein Glas an und sagte: »AC/DC.«
»Wie romantisch«, sagte sie und hob eine Augenbraue. Er ging nicht darauf ein, sondern legte seinen Finger auf ihre Lippen
und forderte sie mit einem schnellen Seitenblick auf die Boxen zum Zuhören auf.
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You’re the one I’ve been waiting for
I need you lovin’ more and more
Wie nett. Hauptsache, ich habe ihn da, wo
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