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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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Masse denn anders?«
    Decker spürte den angenehm kühlenden Sandstein durch den Stoff seiner Hose und sann kurz nach. »In einer Masse passiert Sonderbares
     in der menschlichen Psyche. Es schwindet die bewusste Persönlichkeit des einzelnen. Das Unbewusste übernimmt die Herrschaft,
     und man ist bereit, sich einem Führer oder einem Glauben zu unterwerfen.«
    »Sie wollen sagen, der Einzelne ist eigentlich gar nicht mehr er selbst? Er ist wie ein Roboter, der seinen eigenen Willen
     nicht mehr in der Gewalt hat?«
    »Ja. Als Teil einer Masse wird der einzelne zum Triebwesen |55| und zum Barbaren. Er tut Dinge, die er allein niemals tun würde. Alle Schranken fallen. Alle Verbote sind plötzlich aufgehoben.
     Von außen wirkt er wie hypnotisiert und ist leicht verführbar. Deswegen sagen Zeitzeugen von Kriegen immer wieder, dass sie
     auch nicht so genau wissen, warum sie sich damals haben hinreißen lassen. Oft finden sie auch gar nicht mehr in die Zivilgesellschaft
     zurück.«
    »Weil sie einmal ohne jede Hemmung gelebt und alle Grenzen der Zivilisation überschritten haben?«
    »Ja. Sie können die Türen schwer wieder schließen, die einmal geöffnet wurden.«
    Li Mai ließ ihre Blicke über den Platz wandern, dann fragte sie: »Könnte man das auch auf die Geschichte Deutschlands anwenden?
     Die Nazis zum Beispiel?«
    »Wie kommen Sie denn jetzt darauf?« Decker war genervt.
    »Nur so«, log sie.
    Decker holte tief Luft. »Darüber gibt es geschätzte 20.000   Bücher. Aber am Ende scheitern die meisten doch beim Versuch, diese unglaublichen Verbrechen auch nur in Begriffe zu fassen,
     geschweige denn zu verstehen.«
    »Aber es ist doch auch unfassbar.«
    »Nein. Ganz und gar nicht. Es ist nur dann unfassbar, wenn Sie von falschen Voraussetzungen ausgehen.«
    »Von einem falschen Menschenbild?«
    Warum will sie das nur alles ausgerechnet jetzt wissen?
»Ja. Unter bestimmten Umständen werden alle Soldaten zu Mördern und Triebtätern. Denken Sie nur an die Verbrechen, die die
     Japaner in China an wehrlosen Zivilisten begangen haben. Denken Sie an die gefangenen Frauen, die vergewaltigt und zur Prostitution
     gezwungen wurden. Mord und Schande reichen weit zurück in die Geschichte |56| . Waren denn das Kolosseum mit seinem ganzen Umfeld und die Orgien in Rom nicht auf gewisse Art genauso wahnsinnig? Beides
     wurde organisiert, verwaltet, geduldet, gewollt, erzwungen und jeder wusste es.«
    Li Mai überlegte: »Das heißt, man kann das Nazi-Regime als Phänomen der Massenpsychologie verstehen, und das wiederum setzt
     voraus, dass man die Triebhaftigkeit des Menschen akzeptiert und die Vorherrschaft des Unbewussten? Aber wie kommt die Bestie
     an unserem Verstand immer wieder vorbei?«
    »Mit Hilfe von Ideologien.«
Himmel, wann hört die endlich auf zu Fragen?
    »Was?«
    »Wenn Hass und Feindbilder fest etabliert sind, wird der Verstand ausgeschaltet. Man glaubt, es gebe vernünftige Argumente
     für ein an sich völlig irres Vorhaben. Dieses falsche Bewusstsein wird dann zur Ideologie, zu einem riesigen, immer verworreneren
     Gedankengebäude, das für alles eine Rechtfertigung liefern soll. Bis zu jedem Extrem hin. Sogar bis zur Selbstvernichtung.«
    »Ein faszinierender Ansatz.« Li Mai senkte den Blick und strich sich mit der Hand übers Kleid. »Aber sehr schrecklich.«
    Decker witterte endlich seine Chance. Er lächelte und berührte sie leicht an der Schulter. »Sie haben recht. An so einem schönen
     Abend sollten wir nicht länger über die dunkle Seite der menschlichen Seele reden.«
    »Sondern über was?«
    »Vielleicht sollten wir überhaupt nicht mehr reden?« Er nahm ihr das Glas aus der Hand, stellte es neben seinem ab, sah sie
     an und wartete auf ihre Reaktion. Wie weit würde sie gehen?
    »Verstehe.« Sie hielt ihm ihre Hand hin. Dabei sah sie |57| ihn wieder tief und lange an: »Wollen wir den Spießern da drinnen einmal zeigen, wie man tanzt?«
    »Gern. Woran denken Sie?«, fragte Decker und geleitete sie in den Ballsaal zurück.
    »Argentinischer Tango.«
    »Dieser Tanz wurde 1913 den deutschen Offizieren verboten, weil er als unsittlich galt.«
    »Stört Sie das?«, fragte Li Mai.
    »Mein Ruf ist schon ruiniert«, lächelte Decker.
    »Und ich genieße diplomatische Immunität.« Sie gab der Band ein Zeichen. Decker bekam es stirnrunzelnd mit.
War das geplant?
    Gleich als nächstes spielten die Musiker einen Tango. Die Gäste standen plötzlich still und wussten nicht so recht weiter.
    

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