Das Tibetprojekt
in der Geschichte und im Zusammenhang damit auch über die Natur der menschlichen
Seele. Ein weitgesteckter Themenkreis. Daher habe ich heute Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen zu mir eingeladen,
die ich Ihnen jetzt vorstellen möchte ...«
Es war tatsächlich eine illustre Runde: ein Philosoph, ein Theologe, ein Zoologe und ein Paläoanthropologe. »Das sind die,
die in Afrika die Skelette unserer ältesten Vorfahren ausgraben«, erklärte der Moderator. Dann kam er zu Decker. »Der letzte
Gast meiner heutigen Sendung ist schwer einzuordnen. Er ist zunächst Historiker mit dem Spezialgebiet der Religionsgeschichte.
Aber er |17| hat sich einen Namen gemacht, weil er gern unkonventionelle Verbindungen zu anderen Fachrichtungen herstellt. Nicht selten
wird er als Enfant terrible bezeichnet. Andere schätzen ihn jedoch genau deshalb.«
Die Chinesin nickte innerlich. Deshalb war sie bei ihrer Recherche auf ihn aufmerksam geworden. Während auf der Bühne die
Diskussion mit dem Philosophen begann, schweiften ihre Gedanken ab. Der Philosoph war ein blonder, lockiger Schöngeist, der
sich berufen fühlte, nicht nur seine Studentinnen zum Schwärmen zu bringen, sondern der auch politische Ambitionen verfolgte.
Aber Hegel und der Weltgeist, das interessierte die chinesische Zuhörerin gar nicht. Sie wartete, bis Decker zu Wort kommen
würde. Nur er war für sie von Bedeutung. Sie brauchte jemanden, der anders an die Dinge heranging. Eine Art Freidenker. Jemand,
der tiefer blicken konnte als die anderen und der auch vor ungewöhnlichen Methoden nicht zurückschreckte. Es ging darum, ein
Geheimnis aufzuspüren, das so tief verborgen war, wie die letzten Winkel der menschlichen Seele. Die chinesischen Forscher
hatten sich an dem Projekt die Zähne ausgebissen. Und wertvolle Zeit verloren.
Denn der Auftrag, den sie für Decker hatte, war nur ein Teil eines großen Projekts. Es ging um Weltpolitik. Um viel Geld.
Um die gesamten internationalen Beziehungen Chinas, besonders zu Deutschland.
Die Sache hatte allerdings einen Haken. Dr. Decker durfte das alles nicht wissen.
Die Experten waren mittlerweile in einen regen Gedankenaustausch verstrickt und das Publikum lauschte. Die Chinesin hingegen
wurde unruhig.
|18| Sie dachte daran, was es bedeuten würde, wenn diese Mission nicht gelang. Jahrelang hatten sie auf eine solche Chance gewartet,
und nun war sie da. Mehrere Faktoren kamen wie in einer seltenen Konstellation der Sterne zusammen. Dazu gehörten die Zusammensetzung
der amtierenden Bundesregierung – und der Mord an einem Professor. Der Tote war für China ein Wink des Schicksals gewesen.
Die Karten waren verteilt, und sie hatten das Ass. Es fehlte nur noch der Experte am Spieltisch. Das könnte Dr. Decker werden.
Nur Zeit hatte sie nicht. Das war das Hauptproblem bei der Sache. Damit die Ergebnisse ihre Wirkung erzielten, mussten sie
an einem bestimmten Tag an einem bestimmten Ort vorliegen. Nur dann hatte sie ihre Mission erfolgreich erfüllt, und ihre Auftraggeber
waren zufrieden mit ihr.
All ihre Hoffnungen ruhten auf Decker.
Sie hatte nur noch eine Woche.
Der Countdown lief unaufhaltsam.
»Herr Dr. Decker«, sagte der Moderator. »Jetzt haben wir ja schon einige Statements zum heutigen Thema gehört, nun würde uns natürlich
auch Ihre Meinung sehr interessieren.« Bei diesen Worten hob die Chinesin den Kopf. Jetzt wurde es spannend.
Dr. Decker ließ seine Blicke über das Publikum wandern, sah dann seine Kollegen an und richtete schließlich sein Wort an den Moderator.
»Wir befassen uns heute mit der Natur der menschlichen Seele und ihren Taten. Es wurden gerade die großen Namen der Philosophie
und der Literatur angesprochen. Aber können die uns denn die Welt erklären? Schauen Sie doch einfach mal in eine Boulevardzeitung.
Was finden Sie dort?«
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»Sex and Crime?«,
warf der Philosoph spöttisch ein. »Ist es das?«
»Ja, genau«, sagte Decker und wandte sich zu ihm um. »Zwei grundlegende Beweggründe unserer Seele, die jeden Tag für Schlagzeilen
sorgen. Denken Sie doch nur mal an all die Familiendramen und Greuel in Krisengebieten. Horrortaten, die jede Vorstellung
übersteigen. Das ist die Wirklichkeit. Da zeigt sich die Natur des Menschen.«
»Wollen Sie abstreiten, dass wir zugleich auch kultivierte und zivilisierte Wesen sind?«, fragte der Philosoph.
»Sind wir das?« Dr. Decker blickte ihm
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