Das Tier
Hals hatte der Mann ein Horn hängen, mit dem er zur Not Hilfe rufen konnte.
Und die Gardisten , ging es Cyrian durch den Kopf.
„Um diese Zeit?“, fragte der Nachtwächter auch prompt mit einiger Skepsis in der Stimme.
„Ich arbeite für Doktor Lerome und soll …“
„Sag das doch gleich. Da bist du aber eine ganze Ecke vom Weg abgekommen“, brummte der Nachtwächter zu seiner Erleichterung. Cyrian wurde an den Schultern gepackt und herumgedreht.
„Du musst die Straße hinunter laufen“, wurde ihm erklärt. „Dann gerätst du auf die Hauptstraße. Die gehst du entlang, bis du einen Park erreichst. Dort wendest du dich nach links in eine Allee hinein. Es müsste das vierte oder fünfte Haus auf der rechten Seite sein. Herr Stian hat einen eigenen Brunnen vor seiner Villa. Du kannst sie gar nicht verfehlen.“
Artig bedankte sich Cyrian und schaute dem Nachtwächter hinterher, der seinen Weg fortsetzte. So einfach war es gewesen, sich ein stückweit an Thars’ Vergangenheit anzunähern. Und an die eigene Zukunft. Einer Zukunft, in der er keinen Menschen mehr zu fürchten brauchte. Nur die vielen Lügen und seine Geheimniskrämerei machten ihm zu schaffen. Aber wenn er das Wundermittel erst einmal gefunden hatte, dann würde er das Lügen nicht mehr nötig haben.
Er hatte eine ganze Weile gebraucht, um seinen zerschundenen Körper bis zu Stians Villa zu schleppen. Nun stand er vor dessen Zaun und spähte durch die verzierten Metallstreben zu dem prachtvollen weißen Gebäude hinüber. Hier hatte Thars verkehrt? In einem solchen Palast? Schnell blickte er links und rechts die Straße hinunter. Niemand war zu sehen. Cyrian zog sich keuchend vor Schmerz an dem Zaun empor. Er hätte warten sollen, bis die Striemen einigermaßen verheilt waren. Allerdings wollte er dieses Mittel – es musste ein Serum sein, wenn es gespritzt wurde – möglichst sofort. Das war das letzte Mal gewesen, dass ihn jemand geprügelt hatte. Das hatte er sich heute im Bett geschworen, nachdem Thars ihn in die Grüne Villa zurückgebracht hatte.
Leider vertrieb die kühle Nachtluft die Wirkung des Laudanums, sodass er nun jeden einzelnen Gürtelhieb nachspüren konnte.
Brudfor verdamme diesen Gardisten!
Er hatte Todesangst verspürt, als sie ihn in dieser Gasse gestellt hatten. Wenn Thars nicht gewesen wäre … Thars, der ihn nie als ebenbürtig ansehen würde, wenn er ständig auf ihn aufpassen musste.
Vorsichtig schlich sich Cyrian näher an die Villa heran. Keine bissigen Hunde stürmten auf ihn zu, was er für ein gutes Zeichen hielt. Vielleicht blinzelte Brudfor endlich einmal auf ihn hernieder. Dreimal umrundete er das komplette Gebäude, prägte sich jedes Fenster und jede Tür ein. Endlich beschloss er, dass er es mit dem Dienstboteneingang versuchen würde. Allerdings würde er Werkzeug brauchen, um das Schloss zu knacken. Meister Flinkfinger hatte ihm gezeigt, wie es ging. Cyrian war ihm damals nicht schnell genug gewesen, obwohl er das Übungsobjekt öffnen konnte. Der Meister hatte ihm zur Strafe so heftig am Ohr gezogen, dass ihm das Blut über den Hals gelaufen war. Cyrian zuckte mit den Schultern. Kein halbes Jahr später baumelte Meister Flinkfinger am Galgen. Verraten von einem der kleinen Gauner, die er ausgebildet hatte.
Bedauernd starrte Cyrian die Tür an. Sinnlos, es ohne Werkzeug versuchen zu wollen. Er sollte sich jetzt beeilen, dass er zurück in sein Bett kam, ehe ihn jemand vermisste. Das hier musste sein Geheimnis bleiben, denn er war sich sicher, dass Thars sein Vorhaben keineswegs gutheißen würde.
C-Y-R-I-A-N .
Hochkonzentriert krakelte Cyrian die Buchstaben, aus denen sein Name zusammengesetzt war. Seine Zungenspitze lugte dabei immer wieder zwischen seinen Lippen hervor, was absolut entzückend aussah. Da er zu zerschlagen war, um dem Doktor bei der Arbeit zu assistieren, hatte er die Erlaubnis erhalten, mit Thars Lesen und Schreiben zu üben. Das Material dafür hatte er von Melva erhalten. Leromes Frau war Porzellanmalerin. Eine große Manufaktur belieferte sie regelmäßig mit Vasen und Geschirr und allen Arten von Hausrats- und Dekorationsgegenständen. Melva bemalte sie frei nach Gutdünken, jedes Teil war ein Einzelstück und wurde teuer an die Haushalte der Reichen und Adligen verkauft. Ware mit leichten Beschädigungen konnten sich auch die weniger gut gestellten Familien leisten. Bruchware klebte Melva sorgfältig zusammen und verschenkte sie an Kranken- und Waisenhäuser. Für
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