Das Tier
war es nicht weit. Thars überlegte gerade, ob er wie ein braver Bürger an der Haustür klopfen sollte, als er einen Laut hörte. Ein Schrei, von irgendwo aus dem Hausinneren. War das …
Nein. Er hatte stundenlang an Cyrian gedacht, verständlich, dass er sich jetzt einbildete, seine Stimme zu erkennen. Nun verfluchte er den Regen, Thars konnte wenig mehr als Wasser riechen, wenn auch das bis in die kleinsten Teilchen, inklusive Staub und Dreck von den Manufakturschloten. Seine anderen Sinne mochten zwar ebenfalls übermenschlich scharf sein, doch mit ihnen konnte er die Hausmauern nicht durchdringen. Der Regen beeinträchtigte auch seine Ohren und mischte sich mit dem Geplätschere von Stians Brunnen.
Da, war das wieder ein Schrei gewesen?
Verdammt, er musste da rein, sofort!
Wo sind eigentlich die Hunde?
Stian hatte sein Haus stets scharf bewachen lassen, seine Angst vor Einbrechern war groß.
Heute wird sich zeigen, dass du damit recht hattest!, dachte Thars grimmig. Sollte er ein Kellerfenster einschlagen? Nein, die waren zu schmal. Dann besser den Dienstboteneingang.
Er huschte um das Haus herum, aber noch bevor er der Tür nahe gekommen war, erstarrte er – Cyrian! Er witterte ihn, eindeutig! Und da, er hörte wieder einen Schrei, und das war eindeutig sein Cyrian!
Thars blieb keine Zeit, die Alternativen abzuwägen oder sich für eine Vorgehensweise zu entscheiden. Seine primitiven Instinkte trugen ihn durch die verschlossene Tür und die Treppe hoch, die er seit seiner Kindheit unzählige Male auf- und abgestiegen war. Ein kleiner Teil seines Bewusstseins wurde von Erinnerungen überflutet. Der Rest war allein auf Cyrian fixiert. Er sah ihn dank seines Geruchssinnes bereits vor seinem geistigen Auge, sein Engel lag am Boden. Stian war bei ihm, hatte sich über ihn gebeugt, und in seiner Hand …
Brudfor verdamm mich!
„Wag es nicht!“, brüllte Thars, während noch die Splitter der Tür zum Arbeitszimmer umherflogen, durch die er gerade hindurchgerannt war.
„Wag nicht, ihm das Zeug zu spritzen!“
Stian.
Sein Freund, sein Vertrauter, sein Ersatzvater. Thars witterte panische Angst, als sich seine Hand um Stians Kehle schloss und er ihn so an die Wand drängte. Die Spritze fiel zu Boden. Sie war leer.
„Oh Brudfor, nein, nein!“ Thars heulte auf vor Wut und Entsetzen. Er achtete kaum auf Stian, der röchelnd in die Knie sackte, als er ihn losließ. Cyrian!
Sein wunderschöner Engel lag bewusstlos da. Thars konnte das Mittel riechen, das Gift, das durch Cyrians Adern rann. Es war zu spät, das Mittel hatte bereits das Gehirn erreicht und drang in jede einzelne Zelle ein.
„Warum hast du das getan?“, wisperte er fassungslos. Er hielt Cyrian an sich gepresst, wiegte ihn sacht.
Stian kam schwankend auf ihn zu.
„Ich habe nichts getan“, stieß er gepresst hervor, so gut er es mit seiner gequetschten Kehle vermochte. „Der Junge ist hier eingebrochen! Ich hatte ihn nicht bemerkt, bis er anfing zu schreien. Er hat meinen Safe geöffnet, trotz der ganzen Sicherheitsschlösser. Ist er ein Opiumsüchtiger? Er hat vielleicht gedacht, in der Spritze befindet sich ein Rauschmittel …“ Stian brach ab, als Thars tränenblind zu ihm aufblickte.
„Du … du kennst den Jungen? Ist er der Liebesdiener, mit dem du aus dem Gefängnis ausgebrochen bist?“
Thars nickte hilflos. Er konnte keine Lüge an Stian wittern. Keinen Verrat, keinen Triumph, nicht in Bezug auf Cyrian jedenfalls. Lediglich dasselbe Entsetzen, das auch Thars spürte, und tiefe Schuld, sobald ihre Blicke sich trafen. Stian hatte sich verändert, stellte er überrascht fest. Der stets gepflegte, immer korrekt bekleidete, würdevolle alte Mann war fort. Ein Fremder hockte dort, die wenigen verbliebenen weißen Haare fettig und verfilzt, das Gesicht seit Tagen unrasiert. Er hatte Branntwein getrunken, und das vermutlich schon seit Wochen. Stian stank nach Schweiß, Alkohol und Erbrochenem, nach altbackenem Brot und kalter Kohlsuppe, nach Schlaflosigkeit, stundenlanger Bewusstlosigkeit, Tränen und Selbstmitleid, Albträumen, Angst …
Jetzt wurde Thars auch bewusst, dass sie allein in diesem Haus waren. Keine Diener. Keine Freunde oder Kollegen, die früher zu jeder Tages- und Nachtzeit hier ein- und ausgegangen waren. Stian war allein, viel zu lange schon ganz allein.
„Es tut mir so leid, mein Junge, so unendlich leid, was alles geschehen ist …“, murmelte er. „Die Gemeinschaft der Valorsaner gibt es nicht mehr. Wie
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